Freitag, 12. März 2021

Im Inzidenzzirkus: Wie Deutschland dem Resilienzrummel entkommt

Zustände wie bei Anarchos in der Rigaer: Ein gewählter Häuptling muss über seine Entscheidunge diskutieren.

Es gilt die 100, ehe es zur automatischen Notbremse kommt, außer dort, wo die 100 gerissen wird, denn dann tritt die regional nächstgelegene Unter-100 in Kraft, allerdings nicht im Brandenburgischen. Dort gilt dann automatisch die Rückfallgrenze 200 als atmender Deckel der Seuchenmatrix. Zumindest für den Einzelhandel, der wegen der Ansteckungsgefahr nur noch Einzelfamilientermine für sogenannte Solo-Shoppingtouren mehr vergeben darf.

Taumeln in Richtung Öffnung

Deutschland im Fastfrühjahr, Deutschland in der Impfsehnsucht, im Maskenhandel, im Resilienzchaos. Gezwungen, zu schließen, ziehen die immer wieder hereintröpfelnden Wahlumfragen die führendsten Politiker der Republik doch unwillkürlich Richtung Öffnung. Die Menschen, so heißt es nun, bräuchten das, sie seien erschöpft vom Kampf gegen das Virus, der durch eine kurze, knackige Daheimbleiben-Offensive gewonnen werden sollte, dann aber zum endlosen Stellungskrieg wurde wie damals bei Munster und Urbeis.

Wie aus der heiligen 50 die heilige Hundert wurde, verwandelte sich die 50 jeweils mit dem Trend in die 35, dann aber ebenso schnell in die 200. Zum ersten Mal seit Corona kam, zeigt Deutschland, wie flexibel das Land reagieren kann: Auf steigende Zahlen und eine angekündigte langsam größer werdende Zahl von Schnelltests, eines Tages irgendwann, reagieren die Corona-Kabinette mit neuen Grenzwerten, die der Lage angepasst sind. 

Inzidenzwerte-Handel vor dem Start

Wer sie erreicht, darf vorsichtig öffnen, wobei alles geschlossen bleiben muss, bis die Kurve der Sieben-Tage-Inzidenz die R-Wert-Kurve von oben schneidet. Wer sie nicht erreicht, weil er nicht kann, darf sich einen Nachbarkreis oder einen passenden Wert seines Bundeslandes zurechnen und die Impfreihenfolge entsprechend anpassen. Landkreise und kreisfreie Städte, die nach der tagesaktuellen Öffnungsmatrix unterhalb der gesetzlichen Grenzen bleiben, sollen ihr Inzidenzkontingent dazu demnächst - die entsprechende EU-Verordnung steht allerdings noch aus - bis zum 100er-Wert auf dem Inzidenzmarkt an härter betroffene Gemeinden verkaufen können. Diese Inzidenzwert-Zertifikatehandel werde schlimmer betroffene Regionen motivieren, ihre Anstrengungen zur Einhegung der Katastrophe bis zur vollendeten Durchimpfung zu intensivieren, glaubt man in Brüssel und Berlin.

Das ist äußert notwendig, denn auch wenn die großen Medien nicht mehr tagesaktuell vom Fortgang der großen Impfkampagne berichten, tut sich dort wenig. Zuletzt wurden 164.434 Erstimpfungen und 50.988 Zweitimpfungen an einem Tag verabreicht, 20.000 weniger als am bisher erfolgreichsten Impftag, als es gelang, 238.155 Menschen zu impfen. Bei den Über-80-Jährigen steht die Impfquote im vierten Monat bei stolzen 30 Prozent: Nur etwa 795.000 Senioren dieser Altersgruppe sind komplett geimpft, 5,6 Millionen überhaupt noch nicht. In diesem Tempo wären die Über-80-Jährigen bis Jahresende zu schaffen. Doch um bis zum "Ende des Sommers", wie Bundeskanzlerin Angela Merkel die Zeit vor dem Tag der Bundestagswahl nennt, allen "Bürgern ein Impfangebot machen zu können" (Merkel), müsste Deutschland inzwischen mehr als 600.000 Menschen am Tag impfen.

Nicht am Impfstoff fehlt es

Eine Zahl, die selbst im Regierungsviertel inzwischen für utopisch gehalten wird, denn es ist schon seit Tagen nicht mehr die Menge des verfügbaren Impfstoffes, die das Tempo bestimmt, sondern die Organisation der Terminvergabe. Mehr als zehn Millionen Dosen wurden bisher geliefert, nur 70 Prozent davon aber verwendet - und weder der Bundesgesundheitsminister noch die Zuständigen in den Bundesländern wissen zu sagen, woran genau das liegt. Man müsse einfach noch schneller werden", macht man sich dort im klassischen Duktus der DDR-Propaganda Mut, die auch stets davon gesprochen hatte, sicher "noch" dies und das optimieren zu müssen, um zu betonen, wie gut eigentlich alles schon lief.

Aber wie nur, wie nur, wie nur macht man es wahr?, sang der große Dichter Holger Biege einst, ehe er fragte "wo nur, wo nur ist noch der Sinn?" Hausärzte einbeziehen, womöglich schon im April, nur fünf Monate nach Impfstart? Oder die Impfreihenfolge über die staatlichen Lottogesellschaften beschleunigen? Eine Fernsehshow im Ersten, das jetzt wegen der Sparanstrengungen wieder nur ARD heißt, Titel "Deutschland sucht den Impfstofftester"? Sollen sich Jogi Löw, Herbert Grönemeyer, Moritz Bleibtreu, Smudo, Anne Will, Lena Meyer-Landrut, der Autorin Charlotte Roche, dem Moderator Jan Köppen und dem CDU-YouTuber Rezoin einer großen Samstagabendshow impfen lassen müssen? Von Karl Lauterbach, Christian Drosten und anderen populären Fachleuten? Was wäre erreichbar, würde Sachsens Ministerpräsident einmal die Woche am Gartenzaun mit Leugnern und Zweiflern diskutieren, live im MDR? Oder reicht es wirklich, wenn die neuaufgestellte Division der EU-Influenzer über Instagram, Facebook und Twitter für Vernunft und Augenmaß plädiert


2 Kommentare:

  1. >> wenn die neuaufgestellte Division der EU-Influenzer über Instagram, Facebook und Twitter für Vernunft und Augenmaß plädiert

    Muß das nicht heißen:

    wenn die neuaufgestellte Division der EU-Influenzer über Instagram, Facebook und Twitter Vernunft und Augenmaß lädiert

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  2. Apropos Divisionen: um den Krampf des Stellungskrieg zu vermeiden, wurde der Blitzkrieg erfunden, eine Mischung aus Können und Arroganz. Das ist heute so nicht mehr möglich, weil nur noch Arroganz. Eine entscheidende Einkreisung, die es anzustreben gälte, ist der PCR-Test.

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