Samstag, 3. Oktober 2020

3. Oktober: Ein Staat wie frisch gefallener Schnee

Deutschland als deutscher Nationalstaat wurde mitten im Deutsch-Französischen Krieg am 18. Januar 1871 gegründet, ganz einfach dadurch, dass der preußische König Wilhelm I. im Spiegelsaal von Versailles - mitten in Frankreich - zum Deutschen Kaiser ausgerufen wurde. Der Wind stand gut, Deutschland war im Trend, allerlei Ländereien wollten mitmachen. Neben den deutschen Ländern im Süden stießen die eigentlich überwiegend polnische Provinz Posen, das zum Teil dänischsprachige Schleswig und das Reichsland Elsaß-Lothringen zum neuen Nationalstaat in der Mitte Europas.

Deutschland ist damit derzeit 149 Jahre alt, der 150 steht an, allerdings wird auch der vermutlich ein Tag ohne Festreden und Feuerwerk werden, denn als zu spät gekommene Nation hat sich das ehemalige Kaiserreich seiner Gründungsgeschichte weitgehend entledigt. Wie die Gründung des Nationalstaates 1871 sind auch die Hals über Kopf erfolgte Gründung der Weimarer Republik am 9. November 1918 und die Gründung der Bundesrepublik am 24. Mai 1949 im Staub der Geschichte versunken. Wer heute bei Google "Gründung Bundesrepublik" eingibt, bekommt eine nicht nur Historiker überraschende Auskunft: Danach wurde die Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 gegründet.

Deutschland sagten nur Rechtsradikale

Alles vorher ist weg, erst ab da beginnt es richtig mit diesem "Deutschland", das sich vor dem Stichtag "Bundesrepublik" oder aber "DDR" nannte, weil "Deutschland" nur Rechtsradikale sagten, die heute "Rechtsextreme" genannt werden. Inzwischen hat sich das grundlegend geändert, mit dem Verschwinden des Deutschland davor ist das Deutschland danach an die Stelle dessen getreten, was zuvor eventuell gewesen sein könnte. Ganz offiziell feiert die Staatsspitze "30 Jahre Einheit", klaglos sprechen die Hüter der Wahrheit die Parole nach, die von staatlichen Erwachsenenseminaren alljährlich neu ausgegeben wird.

Es ist, als hätte es vor 1990 niemals ein vereintes Deutschland gegeben, jedenfalls keines, an das zu erinnern lohnt. Zu viel Kaiser, zu wenige Demokraten, zu viel Hitler und viel zu viel  Krieg und Völkermord. Mag auch das Bürgerliche Gesetzbuch, in Kraft getreten am 1. Januar 1900, bis heute Grundlage aller Entscheidungen vor deutschen Zivilgerichten sein, so gilt doch alle Konzentration beim Feiern der jüngeren Geschichte. 

Wie aus dem Nichts erstand das Deutschland, das wir heute kennen, in einer Oktobernacht vor 30 Jahren, als sich die "nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene bipolare Weltordnung sich weitgehend friedlich auflöste" und "ein Zusammenwachsen von Ost und West ermöglichte" (Bundeszentrale für politische Bildung). Geschichte vom kalten Buffett. Man sucht sich aus, was schmeckt, der Rest bleibt liegen. Als würde den USA ihre Geschichte abzüglich des Bürgerkrieges feiern, als würde Polen seine nationale Existenz erst ab 1990 zählen. 

Zur Feier des Tages rekapituliert PPQ.li eine wissenschaftliche Untersuchung der Fachhochschule Naundorf, die untersucht hat, wie sich Gegenwart und Ex-DDR jenseits allgemeingültiger Festtagsrede tatsächlich zueinander verhalten. Das erstaunliche Ergebnis: Die Bundesrepublik kann nahezu alles besser als die Arbeiter- und Bauern-Diktatur – bis auf eines, das aber kann sie gar nicht.


Demokratie: Die DDR war ein Obrigkeitsstaat, den mitzugestalten nur wenigen erlaubt war. Gerade in den gegenwärtigen "Zeiten des Hasses" (RP) gelingt es der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Tag für Tag überzeugend, ihre wirklichen Stärken auszuspielen und alle Bürger an der demokratischen Meinungsbildung zu beteiligen. Nur wer ein Hetzer und Hasser ist, muss draußen bleiben, denn er hat sein Recht verwirkt, "Hass und Gift in unser Land zu spritzen" (Heiko Maas).

Transparenz des Regierungshandelns: Die DDR war ein Land einsamer Entscheidungen. Honecker befahl, die Partei ordnete an, das Volk musste folgen. Ein Vierteljahrhundert später sind solche Zustände unvorstellbar, denn die höchste Regierungsinstanz berät alle Entscheidungen mit großer Tragweite ausgiebig mit dem Bundestag. Erst dort fallen gut abgewogene, fundierte Beschlüsse von historischer Tragweite wie der zur Grenzöffnung oder zur Rettung Griechenlands.

Überwachung: Die DDR war ein Überwachungsstaat, in dem nahezu 180.000 haupt- und ehrenamtliche Spitzel nahezu 1,5 Millionen Bürger ausforschten. Zeitweise wurden mehr als 3.000 Telefonanschlüsse gleichzeitig abgehört, Briefe wurden stichprobenartig geöffnet und kopiert, die Staatssicherheit erstellte von bekannten Oppositionellen sogar Bewegungsprofile. Zustände, wie sie heute unvorstellbar sind. Außer gegen Rechtsextremisten und Feinde unserer Ordnung werden derzeit ausschließlich Aktivitäten aller deutschen Telefonanschlüsse vorsorglich überwacht, nicht aber vollständig aufgezeichnet. Auch elektronische Post wird von den Geheimdiensten nur auf die Verwendung bestimmter Schlüsselworte.

Planwirtschaft: Die DDR scheiterte an ihrer unvollkommenen, auf einer noch nicht zu Ende gedachten Kybernetik beruhenden Planwirtschaft. Ein Vierteljahrhundert zeigt Deutschland, wie es besser geht: Planmäßig gelang es, die bedeutsamste Solarindustrie der Welt aufzubauen, planmäßig gelingt derzeit auch der Energieausstieg. Die Zinsen werden bereits seit Jahren planmäßig und im Schulterschluss mit den Partnerstaaten bei Null gehalten, um den geplanten Aufschwung voranzutreiben, die Gemeinschaftswährung zu retten, die Seuche zu bekämpfen und beim planmäßigen Ausbau der Elektromobiliät zu helfen.

Meinungsfreiheit: Hier war die DDR eine Mangelwirtschaft. Wer gegen staatliche Beschlüsse protestierte, musste sich als "Provokateur" und "Rowdy" beschimpfen lassen, die Polizei wurde ausgeschickt, um Demonstrationen von "Randalierern" aufzulösen, die "Rädelsführer" wurden oft festgenommen. Souverän dagegen geht das neue Deutschland mit seinen Kritikern um: Allenfalls werden Zehntausende als "harte Rechtsextremisten" kritisiert, als "Feinde der Demokratie" (Gabriel) bezeichnet oder mit Wasserwerfern zur Räson gebracht.

Zensur: Vom Politbüro überwachte, teilweise von Erich Honecker direkt formulierte Nachrichten waren eine Spezialität der DDR. Was nicht passte, wurde nicht berichtet, wer es doch tat, wurde verfolgt. Keine Spur mehr davon heute. Deutschland ist nunmehr ein Land, in dem die Leitmedien selbst enge Grenzen der Meinungsfreiheit fordern und Tagelöhner an der Berichterstattungsfront automatisch liefern, was auch das Kanzleramt als Kunde kaufen würde. Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit.

Regulierung, Bürokratie: Formulare, Anträge, Eingaben - die DDR war ein durchbürokratisiertes Land, eine Art Preußen auf kommunistisch. Nichts ging ohne Genehmigung, alles dauerte entsprechend lange. Das hat sich zum Glück geändert. Selbst weitreichende Entscheidungen benötigen heute weder Antragsverfahren noch Schriftform mehr (siehe: Energieausstieg, Grenzöffnung), mit Hilfe des Bundesbürokratiekostenabbaugesetzes gelang es sogar, zwei Drittel der im Vorjahr gestiegenen Bürokratiekosten wieder zu senken.

Bündnistreue: Wenn schon, denn schon, so sklavisch hing die DDR fest in ihren selbstauferlegten Bündnisverpflichtungen gegenüber RGW, Warschauer Vertrag und Sowjetunion. Das neue Deutschland aber hat daraus gelernt, mit viel größerem Selbstbewusstsein treten deutsche Repräsentanten der derzeitigen Führungsmacht gegenüber und einmal gegebene Zusagen werden selbstbewusst als Versprechen in Möglichkeitsform gedeutet, ehe sie dann doch erfüllt werden.

10 Kommentare:

  1. Stumphsinn des Tages
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    https://www.bild.de/unterhaltung/leute/leute/wolfgang-stumph-ueber-30-jahre-deutsche-einheit-73215318.bild.html?wtmc=ob.feed

    Wolfgang Stumph: In den letzten dreißig Jahren war nicht alles gut.

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  2. Danisch

    Die Wiedervereinigung war ein Fehler.

    https://www.danisch.de/blog/2020/10/03/was-hinter-dem-begriff-des-faschismus-steckt/

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  3. Thilo Schneider

    ... ich würde heute lieber in den neuen als in den gebrauchten Bundesländern leben wollen. Es ist jetzt alles hübsch und sauber – und irgendwie sind die Menschen immer noch etwas netter und lockerer als im Westen. Zumindest kommt es mir so vor.

    https://www.achgut.com/artikel/ploetzlich_rostock_auch_ich_war_ein_besserwessi

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  4. Ich hätt's nicht klarer formulieren können. Der gute Mann kam mir zuvor.
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    https://www.achgut.com/artikel/aus_dem_heldenleben_eines_lehrers_18_Keine_Sprachlogik_keine_Logik

    Mit der Revision dieses Bildungssystems ab den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts verschwindet allgemein die historische Dimension der Sprache im Unterricht zusammen mit dem in der Praxis des Übersetzens realisierten Sprachvergleich. Das hat als Folge oder zumindest als Begleiterscheinung eine Dekadenz in der Sprachformung, die zu einer korrumpierten Individualsprache führt. Sprachförderung kann daher nicht nur auf einem verhaltenstherapeutisch-behaviouristischen Einpauken von Regel beruhen, sondern müsste das spracherzeugende Feld, die überindividuelle Formkraft stärken.

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  5. "Jeder dritte Ostler ist mittlerweile genauso dumm wie die anderen zwei"

    Rolf Miller

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  6. >> vril 3. Oktober 2020 at 16:26 (Strang: Hubertus Knabe ...)

    Ich wuerde diese Problematik nicht so nur auf die Grünen ...
    Nach dem Mauerfall konnten sich diese Teile der SPD aufgrund des eigenen grenzenlosen
    Opportunismus und der Aussicht auf Interessante Posten bei Treuhand und Co. dem
    Einheitstaumel nicht wirklich widersetzen!
    Ein paar Leute mit Rückgrad, wie z.B. O.Lafontaine ... <<

    Paßt büschen dazu. "Rückrad" schrieben früher Sechstklässler an der Kante zur Minderbegabung. Bei Adulten, noch dazu, wenn sie klugscheixxen, erzeugt es bei mir erheblichen Mißmut.

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  7. @Anonym

    Naja.

    Kommt ein Merkelgast auf die Polizei.

    Mir Fahrrad gestohlen. Ich anzeigen.

    Ja, das dauert aber. Wenn ich ihnen einen guten Rat geben darf: Kaufen sie sich derweil ein neues.

    Gute Rad ist teuer, wie man sagt in Deutscheland.

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  8. Miller? Wen ihr alles kennt. Wie wird er bezeichnet?

    Rolf Miller wird als der „konsequenteste Minimalist auf deutschen Kabarettbühnen“ bezeichnet.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Rolf_Miller

    Schaun wir mal, was er wert ist:
    Auszeichnungen:
    1994 – Passauer Scharfrichterbeil
    1994 – Kleinkunstpreis Baden-Württemberg
    1998 – Hessischer und Norddeutscher Kabarettpreis
    2000 – Saarländische Kabarettpreis, St. Ingberter Pfanne
    2001 – AZ Stern – Abendzeitung München
    2002 – Münsterländer Kabarettpreis
    2004 – Das große Kleinkunstfestival, Berlin-Preis
    2004 – Bayerischer Kabarettpreis in der Kategorie Senkrechtstarter
    2005 – AZ Stern des Jahres der Abendzeitung München für die beste Kabarettaufführung des Jahres in München
    2005 – Zeck-Kabarettpreis Newcomerpreis Fresh-Zeck
    2006 – Deutscher Kleinkunstpreis in der Kategorie Kabarett
    2009 – AZ Stern – Abendzeitung München
    2011 – Deutscher Kabarettpreis des Nürnberger Burgtheaters (Hauptpreis)
    2013 – Mundartpreis Badisch-Franken

    Hohn & Spott (konsequent minimalistisch ausgedrückt)

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  9. Man glaubt ja gar nicht wieviel Preise ohne jegliche Bedeutung, die außer einer Hand voll eingeweihter keine Sau kennt, es doch gibt. Was ist den die letzten sieben Jahre passiert?
    Hat der gute Mann inzwischen alle möglichen Preise bereits erhalten? Gibt es keine neuen mehr? Hat er etwas falsches gesagt? Wieso hat man ihn offenbar komplett von jeglichem Preisnachschub abgeschnitten?
    Fragen über Fragen.

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  10. Und wenn wir dereinst endlich die Gründung der vereinigten Bundesstaaten von Europa feiern werden, können wir dann den letzten Faden zu unserer deutschen Geschichte endgültig kappen.
    Dann wird es nicht einmal das wiedervereinigte Deutschland mehr geben, sondern wir
    werden nur noch Europa und sonst gar nichts mehr sein. Damnatio memoriae germania.
    Schöne neue Welt.

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