Donnerstag, 7. Mai 2020

Lockerungsübungen: Das Land der 16 Geschwindigkeiten

Die Corona-Maßnahmen der Bundesländerergeben einen Flickenteppich, den die Bundeskanzlerin jetzt für sehr hübsch erklärt hat.


Der Ablauf einer normalen Corona-Woche ist mittlerweile immer derselbe. Unabhängig vom Wochentag  gibt es erst das Treffen der Kanzlerin mit allen Ministerpräsidenten, zu denen auch die Ministerpräsidentinnen eingeladen sind. Aus der Tür treten anschließend unter betonter Wahrung der Abstandsregeln eine Frau aus Hamburg, ein Mann aus München und ein Herr aus Bremen, die nacheinander von großer Einigkeit zwischen Bund und allen Bundesländern sprechen, wenn sie auch auf Nachfrage zugeben, dass es harte Diskussionen gegeben habe. Nun aber, daran lassen Angela Merkel, Markus Söder und Peter Tschenscher keinen Zweifel, habe man sich geeinigt.

Einigung auf Uneinigkeit


Danach wurden dann anfangs die Zügel angezogen, Kontakt- und Ausgangssperren verhängt, Läden geschlossen, Grundrechte ausgesetzt. Später ging es weiter mit den sogenannten Lockerungen, einem Begriff aus der Bundesworthülsenfabrik, der gerade wegen seiner harmlosen Alltäglichkeit kaum noch Hinweise auf seine ursprüngliche Herkunft im Bereich bondage und hard core zulässt, so dass er auch in Kindereinrichtungen und Kinderzeitungen benutzt werden kann. Verfassungsmäßige Grundrechte, so versprachen die drei von der Bondage-Konferenz, seien nur vorübergehend aufgehoben, das aber im Rahmen der Verfassung durch ein entsprechendes Gesetz, das in den Bundesländern per  Verordnung umgesetzt worden sei, durch eine Rechtsnorm also, die durch ein Regierungsorgan erlassen wird und in der Normenhierarchie zwar hinter dem Grundgesetz und anderen Gesetzen steht, aber im Rang immerhin noch oberhalb von Satzungen und Verwaltungsvorschriften.

Jedenfalls war man immer einig auf der großen Bühne, sogar darüber, dass man unterschiedliche Vorstellungen von Einigkeit hatte. Nur Minuten nach dem Auftritt des Corona-Trios aus der Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin, die so heißt, obwohl Ministerpräsidentinnen ebenfalls zugegen sind, soweit zugegen in "Corona-Zeiten" als beteiligt interpretiert werden darf, erschien dann jeweils Armin Laschet auf einem eigenen Podium wie ein Zwerg, der verwirrt blinzelnd aus dem Stollen seiner Mine tritt. Das Haar auf halb acht, erläuterte der kommende CDU-Chef geduldig, was ihm von der Einigung in Berlin in Erinnerung geblieben und welche Vereinbarung er wie verstanden hatte.

Geeint beraten, getrennt marschieren


Nach Laschet folgen stets die übrigen Landesfürsten, im linearen Fernsehen zumindest so lange, bis die Großkopferten alle ein paar Sätze gesagt hatten. Der Rest musste sich mit seinen Interpretationen seinem Wahlvolk bei Youtube präsentieren oder ganz auf die Überraschung setzen, die seine nächste Corona-Eindämmungsverordnung auslösen würde. Manchmal, wenn spätabends noch Ministerpräsidenten kleinerer Bundesländer in den Spätnachrichten zwei Sätze zu sagen gebeten wurden, war die vibrierende Vorfreude darauf schon spürbar.

Es gab dann auch immer schöne Überraschungen. Einigkeit wurde von den 16 Bundesländern auf eine geradezu beispielhaft europäische Art interpretiert. Nie machten zwei Bundesländer auch nur annähernd dasselbe, schon gar nicht machten sie es zur selben Zeit. Maßnahmen, auf die man sich geeinigt hatte, entpuppten sich mit wenigen Stunden Verspätung als Maßnahmen, über die man wohl nachgedacht hatte, allerdings ohne sich irgendetwas fest vorzunehmen.

48 Stunden nachdem die gemeinsame Konferenz eine Maskenpflicht verworfen hatte, kam sie, zuerst in einem Land, dann in allen. 72 Stunden nachdem die Öffnung von Kneipen, Bars und Hotel verschoben worden war,  war sie in den ersten Ländern beschlossen. Kaum hatte die die Corona-Großkonferenz, ein in keinem Gesetz vorgesehenes informelles Gremium der Notstandsverwaltung, die weitere Beibehaltung von Kontaktbeschränkungen verkündet, hob das erste Land sie auf. Kirchen waren dort offen, da aber noch zu, hier durfte der Kunde zu Ikea, dort nicht. Baumärkte galten in einem Land als systemrelevant, nebenan als Infektionsherde.

Von Ländersachen und  Fürstentümern


Muss so! Infektionsschutz ist Ländersache, rief es aus den Hauptstädten der föderalen Fürstentümer, bei denen nach Artikel 79 des Grundgesetzes die Ausübung der Staatsgewalt bei der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung liegt. Ausgenommen sind Fälle, in denen das Grundgesetz sie dem Bund ausdrücklich zugewiesen hat.

Entscheidungen darüber, wie wo wann wer oder warum niemanden mehr treffen, nicht auf die Straße gehen, eine Maske tragen oder daheim selbst auf seine Kinder aufpassen muss, gehören nicht dazu. Die Bundesländer bilden den Bund, sie sind der eigentliche Staat, denn der Bund entscheidet nur über Fragen, die für die Einheit und den Bestand des Ganzen wesentlich sind, und auch das nur insoweit, wie die Gliedstaaten dabei ihre Staatlichkeit behalten und an der Willensbildung des Ganzen beteiligt sind.

Von oben herunterregieren und den Gliedstaaten Vorgaben dazu zu machen, wie sie eine Pandemie zu bekämpfen haben, widerspricht dem föderalen Prinzip, auf das die Mütter und Väter des Grundgesetzes nach den Erfahrungen des hitlerschen Zentralstaates mit seinem Führerprinzip größten Wert legten. Dass aber 16 Bundesländer und eine Kanzlerin in zehn Corona-Wochen nicht wenigstens zu einem groben Gleichschritt beim Marsch in die "neue Normalität" (Olaf Scholz) widerspricht der Absicht der Konferenzteilnehmer, den beruhigenden Eindruck zu vermitteln, dass die Lage im Griff sei und die Verantwortlichen jederzeit wüssten, was sie tun. Ein Bild, das dringend einer Neuinterpretation  bedurfte,  sollte sich nicht drunten bei den Regierten die Auffassung verfestigen, dass die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut, während der König des Südens selbstverständlich immer ein anderes  Heilmittel verordnen wird als sein kleiner Konkurrent im Westen.

Mit der Trillerpfeife im Hühnerhof


Es spricht für Angela Merkel  strategische Fähigkeiten, dass sie als erste erkannt hat, dass ein Hühnerhof voller aufgeregter Hähne nicht mit der Trillerpfeife zur Ruhe gebracht werden kann. Die Kanzlerin, die seit Ausbruch der Corona-Krise  ausschließlich in blau auftat, um Festigkeit und Verlässlichkeit zu demonstrieren, gestern aber zum ersten Mal rot trug, um Alarm zu schlagen, hat die Vielstimmigkeit des Ministerpräsidentenchores jetzt zu einer besonderen Art von Harmonie erklärt. Wenn alle durcheinandersingen, sei das "doch auch schön" meint ihr Zugeständnis,  "den Ländern weitgehend freie Hand für die Corona-Maßnahmen zu geben" (Tagesschau). Deutschland beschliesst - eine weitere Wortschöpfung aus der Bundesworthülsenfabrik - einen "regionalen Notfallmechanismus", der eine "Obergrenze" für Neuinfektionen vorsieht.

Wie bisher auch, beschließen alle 16 Bundesländer selbst wie sie wollen über die weitere Handhabung von Corona-Massnahmen. Doch immer, wenn regional stärkere Ausbrüche verzeichnet werden, sollen "geografisch begrenzte Massnahmen" in Kraft treten, 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in einer Woche sind danach erlaubt, mehr sind untersagt.

Der anarchische Zustand des vogelwilden Corona-Verordnungswesens, das bis hierher mehr als 80 Eindämmungsverordnungen produziert hat, die bundesweit etwa tausend bis 1.500 Corona-Bekämpfungs- und Lockerungsübungen in Kraft und wieder außer Kraft setzte, wird damit vom eben noch harsch angeprangerten Machterhaltungsplan eines üblen Despoten zu
Staatsziel und Pandemie-Ideal der womöglich weltweit supersten Demokratie.

Zu betrachten ist Staatskunst in höchster Vollendung: Angela Merkel schafft es sogar, die Übergabe der Verantwortung für weitere Lockerungen der Corona-Beschränkungen vom Bund an die Länder so aussehen zu lassen, als habe der Bund jemals eine Zuständigkeit besessen oder ein verfassungsmäßiges Recht gehabt, diese Verantwortung zu beanspruchen. Dadurch gelingt es der Kanzlerin, die mit der Übergabe von etwas, was sie nicht hat und nie hatte, an jemanden, der es die ganze Zeit besaß, eine Forderung danach zu verbinden, "dass in Landkreisen oder kreisfreien Städten mit mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb der vergangenen sieben Tage sofort wieder ein konsequentes Beschränkungskonzept umgesetzt" werde.

Die Länder werden dem selbstverständlich zustimmen.

Und erst dann, wenn es soweit ist, darüber nachdenken, ob sie willens sind, es zu tun.

3 Kommentare:

  1. Ich verstehe nicht, wieso man den dicken Fisch, den man am Haken hat, wieder laufen läßt.
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    https://www.merkur.de/politik/coronavirus-angela-merkel-lockerungen-massnahmen-aufgeben-aerger-streit-ministerpraesident-bund-laender-konferenz-zr-13752396.html

    „Bin kurz davor aufzugeben“: Merkel verzweifelt auf Corona-Gipfel offenbar an Ministerpräsidenten
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    Derweil spricht die DW von

    "Lockerungen mit Notbremse"

    Ergo ist das sowas wie Mietpreisbremse, Griechenlandrettung und all die gleichlautenden Dinge, wird also wegen Bremsversagen nicht funktionieren.

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  2. das entspricht wohl in etwa der "mietpreisbremse mit gaspedal" von 2012 und der "flüchtlingsobergrenze mit atmendem deckel", die ich immer noch für eine zum niederknien schöne begrifflichkeit halte. mit atmendem deckel! das ist doch zu verlieben hübsch

    https://www.politplatschquatsch.com/2012/12/dammmantel-geschoss-aus-der.html

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  3. "flüchtlingsobergrenze mit atmendem deckel" ---

    Wohl wahr, das ist non plus ultra.
    Gern würde ich - und sei es durch scharfe Befragung - herausfinden, wer das ausgeheckt hat, so auch: "die schon länger hier Lebenden".
    Aber auch nicht von ohne ist: "könnte anschlußfähig an rechtes Gedankengut sein"* - wahrhaftigen G*ttes, was rauchen die für Zeuch ...

    Halbgott in Weiß

    *Kennern der Ketzerbriefe sollte es etwas sagen.

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