Ralf Gebhardt und der Jens, zwei aus dem SPD-nahen Bornaer Sarrazin-Lesekreis, ließen sich dann doch fotografieren. |
Immer wieder mittwochs
Mittwoch, 20 Uhr, kommt die Gruppe früherer Bürgerrechtler, Rathausangestellter und Mitarbeiter einer inzwischen geschlossenen Gipskartonfabrik zusammen. „Lesekreis Sarrazin“ nennen sie sich spöttisch, seit der frühere Berliner Finanzsenator bei den amtierenden Spitzen der Partei in Ungnade gefallen ist. „Wir haben damals sein Buch , Deutschland schafft sich ab‘ illegal unter uns weitergegeben“, erzählt Renate Schmitt, „und uns hat das allen sehr gefallen.“
Erst im Nachhinein habe man durch „den Ralf“, mit Nachnamen Gebhardt und einziger ehemaliger „Spiegel“-Abonnent der Runde, erfahren, dass es sich für einen Sozialdemokraten nicht zieme, Sarrazins Ergüsse interessant zu finden. „So kam das dann zu dem Namen“, erinnert sich Gebhardt, der den „Spiegel“ mittlerweile auch nur noch gelegentlich liest, wenn ein besonders drastisches Titelbild seine "niedersten Instinke" anspreche, wie lächelnd gesteht.
Heute sind sie zu fünft, die Inka hat kleine Buletten und eine "Emma" mit sensationellem Inhalt mitgebracht, der Heiner, der wie die Renate Schmitt heißt, „nur mit dt“, hat frische Brötchen dabei, Jens, ehemals Ingenieur beim Gips, wie sie hier sagen, packt ein Beutelchen Gürkchen aus, Renate hat Brause und Sekt dabei. Den neuen Sarrazin, so ist es hier Sitte, lesen sie alle nacheinander, wegen der Kosten alle dasselbe Exemplar. Dabei darf jeder, der kann, Anmerkungen machen, Fragen stellen oder Hinweise geben.
Wer zuerst darf, entscheidet das Los, der erste Leser muss dann aber auch immer schon ein paar Vorgucker geben auf das, was auf die anderen wartet. „Man wartet ja nicht besonders lange“, beschreibt Inka, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, weil ihr Sohn bei den Grünen arbeitet und „da weisste doch nie, obber Ärger kriegt“. Alle sind Rentner oder Frührentner, alle haben Zeit zu lesen. „Und der Sarrazin“, so formuliert es Ralf Gebhardt, „schreibt auch so spannend und unterhaltsam, dass man sich da in der Regel nicht durchquälen muss.“
Thriller wie ein Krimi
„Wie ein Krimi“ komme ihr manchmal vor, was der greise Hauptfeind der in der Erneuerung befindlichen deutschen Sozialdemokratie schreibe, bestätigt Inka ohne Nachnamen. Erst dieser Blick in eine für Borna so fremde Welt, damals bei „Deutschland schafft sich ab“, die prekären Verhältnisse, die Milieus, die sie hier im dunkeldeutschen Osten nicht kennen. Fremdheit daheim, falsche Sprache, Nachbarn, mit denen man nicht reden kann, überdiverse Schulen, die bei der Integration die Hände heben. Borna schien damals noch wie heile Welt, „man hat das gelesen wie einen Horrorroman“, sagt Renate Schmitt.
Ein bisschen sei natürlich auch der Kitzel dabei gewesen, ob einen die Parteiführung erwischt und was dann passiert, sagt Heiner Schmidt. „Wir im Osten haben doch immer schon gewusst, dass das, was sie verbieten, am meisten reizt.“ Alle Sarrazin-Bücher danach haben sie mitgenommen, gelesen, darüber gesprochen, diskutiert und gestritten. „Wir sind nicht immer derselben Meinung gewesen“, gesteht Jens vom Gips, der nicht mehr über sich sagen will, weil seine Frau immer noch im Rathaus arbeitet und „ich vermeiden will, dass sie disziplinarisch zu Verantwortung gezogen wird, wenn rauskommt, was ich lese“.
Im Ort ist der Lesekreis zwar nicht nur bekannt, sondern legendär. Aber wie das im Osten und speziell in Sachsen ist: Sie stecken hier alle unter einer Decke, sie halten, gerade wenn es gegen Auswärtige geht, alle zusammen und tun dabei so, als sei das etwas ganz Normales. Typisch, wie sie heute hier den neuen Sarrazin diskutieren. Anfangs sei er enttäuscht gewesen, so Ralf Gebhardt, denn der Namensgeber des Bornaer Lesekreises verzichte trotz aller Vorankündigungen in der Presse auf Polemik gegen den Islam. „Nur lauter trockene Fakten“, klagt auch Inka ohne Nachnamen, „seitenweise natürlich miese Zahlen über islamische Länder und kreuzlangweilige Zitate aus dem Koran.“
Lieblingsautor auch mit "Feindliche Übernahme"
Sarrazin sei eben Kapitalist, denkt Renate Schmitt, die mit der gleichnamigen früheren SPD-Ministerin nicht mal denselben Namen teilt. „Wenn du seitenweise zitierst, wird das Buch dicker und du kannst es für mehr Geld verkaufen“, glaubt sie, die früher in der Gipskantine gearbeitet hat und etwas von Finanzbuchhaltung versteht. Inka, neben Gebhardt noch die einzige, die den neuen Sarrazin "Feindliche Übernahme" schon durch hat, wie sie hier sagen, findet, dass der Lieblingsautor der Runde erst nach rund 130 Seiten zu alter Form aufläuft. „Da knallt er einem dann aber wieder Fakten um die Ohren, dass es einem schlecht werden könnte“, lobt sie. Das sei echt ein "Buch, das wir so nötig wie einen Ebola-Ausbruch brauchen".
Auch Gebhardt ist dieser Ansicht. „Richtig schön gegruselt“ habe ihm bei den Passagen über muslimisches Leben in Deutschland und Sarrazins Prognosen zur weiteren Entwicklung und sein Aufruf zum "eugenischen Weltbürgerkrieg" (SZ). „Ich habe dann schnell nachgerechnet und zum Glück rausbekommen, dass mich das Meiste nicht mehr betreffen wird.“ Gebhardt ist 66, immer noch kregel und mit vollem Haar, aber mit der aktuellen Gesellschaft hat er abgeschlossen, seit mit Martin Schulz der letzte große Hoffnungsträger der traditionsreichen Sozialdemokratie das Handtuch werfen musste, weil, so sagt er, "machtgeile Karrieristen nicht ertragen konnte, dass er die SPD europafreundlich ausgerichtet hat".
Nahles, Klingbeil und Barley, die gesamte neue Spitzenriege bis hin zu Kevin Kühnert, den Renate immerhin "schnucklig" findet, sie fällt durch bei den Bornaer Ex-Mitgliedern. Lieber sei ihnen der Sarrazin als Autor, auch wenn gewichtige Stimmen aus der Islamwissenschaft ihm vorwerfen, er weigere sich, die wahre Schönheit der Lehre des Propheten zu erkennen.
Auf Urlaub in Ägypten
"Für uns hier reicht, was der Thilo über diese Religion aufgeschrieben hat", glaubt Inka, die im Urlaub mal in Tunesien war und auch mal in Ägypten, damals, als es im Gips noch lief. "Da haben wir ähnliche Beobachtungen gemacht", beteuert sie. Und Jens stützt diese Sicht: "Alles schmutzig, den Dreck einfach hinten aus dem Hof geworfen, wo der Nil langfließt." Muslime erkläre Sarrazin als Menschen, die, wenn sie sich ihrem Glauben ernsthaft unterwürfen, zur Teilhabe am Fortschritt nur als Kostgänger fähig seien. "Als ehemaliger DDR-Bürger fühle ich mich da sehr gemeint", lacht Heiner Schmidt plötzlich.
Stößchen! Noch eine Gurke? "Sind Spreewälder", lobt Jens ohne Nachnamen mit vollem Bulettenmund. Dass Muslime wegen eines "vor 1400 Jahren gestorbenen Gottes kein Schweinfleisch essen sollen", klagt er dann, sei einfach nicht zu begreifen. "Schon damit bist du natürlich in jeder Brigade raus, auch wenn sie jetzt Team heißt." Im Sarrazin-Lesekreis von Borna aber könne jeder mitlesen und die Bücher studieren, vor denen die SPD-Spitze warnt, noch ehe sie Zeit hatte, sie selbst zu lesen. "Wir schließen niemanden aus", betonen Renate, Heiner, Jens, Inka und Ralf unisono: "Borna ist weltoffen!"
Die anderen drei Stammgäste des Zirkels seien auch nur nicht gekommen, "weil doch heute die Presse da ist", flüstert Ralf Gebhardt beim Abschied an der Tür noch vorsichtig. "Man hat ja da so seine Erfahrungswerte", grient er, "nicht dass dann wieder irrtümlich die falschen Bilder verwechselt werden".
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