Sondierungspapier als Wortwolke: Ein Dokument verzweifelter Hybris. |
Die Grundlage für vier weitere Jahre voller Wohlstand und Sicherheit für alle für die einen, ein Papier des Grauens für die anderen. 28 Seiten, knapp 4.000 Worte, die Sterbeurkunde der SPD oder aber der Anfang einer Erneuerung mit alten Köpfen - was die Spitzen von CDU, CSU und SPD nach einer Woche angestrengter Redaktionsarbveit aufgeschrieben haben, wirkt wie ein Tic-Tac-Toe-Spiel: Wo kein Konsens herzustellen war, wurden Formulierungen gewählt, in die jeder Beteiligte seine Ansicht interpretieren kann. Was den einen die "Obergrenze", ist den anderen ein Zielwert, der auch gern überschritten werden kann. Und wo die einen bei "Sicherheit" an geschlossene Grenzen denken, sehen die anderen einen weg, den Familiennachzug sicherzustellen.
Psychologisch erklärbar, weil die geschlagenen der letzten Wahl eigentlich nicht miteinander regieren können, andererseits aber nur aneinander Halt finden. Wo die Schwerpunkte des mühsam ausgehandelten Grundlagenpapiers liegen, zeigt eine grafische Auswertung in Form einer Wortwolke: Je nach Häufigkeit des Vorkommens werden Termini größer oder kleiner dargestellt, alle Begriffe, die im Papier nur einmal vorkommen - etwa das Wort "DDR" - wurden nicht berücksichtigt.
Erstaunlich: Martin Schulz ist es gelungen, sein Steckenpferd Europa, der einzige Themenbereich, auf dem sich der 63-jährige EU-Veteran wirklich wohlfühlt, als einen der zentralen Begriffe in das Koalitionspapier zu drücken. "Deutschland stärken muss Europa" ist nun dessen zentrale Botschaft - nicht weit weg vom "Haben Europa muss SPD", mit dem Schulz im Dezember versucht hatte, seinen Posten als SPD-Parteivorsitzender über die erneuten Volte bei der von ihm ausgerufenen Strategieänderung hin zur nächsten Großen Koalition zu retten.
Die Union hat "Deutschland" hineingeschmuggelt, ein weiteres Beispiel für Merkels klandestinen Politikansatz. 129 Mal wird etwas gewollt, 33 Mal etwas gestärkt, Deutschland kommt 28 Mal vor, Europa 23 Mal. 26 Mal "muss" etwas und 21 Mal wird angekündigt, etwas "schaffen" zu wollen. 18 "Maßnahmen" für 17 "Menschen" werden angekündigt, je 15 Mal wird die künftige Bundesregierung das "unterstützen", etwas " verbessern" oder "ausbauen".
Ein Dokument verzweifelter Hybris, das sich "Frauen" 15-mal widmet, Männern gar nicht, dass ebenso oft einen "Rahmen" vorgeben zu wollen angibt und 14 Mal die "Demokratie" im Munde führt, die Martin Schulz im Dezember überhaupt nicht mehr erwähnt hatte. Digitalisierung kommt ebenso oft vor wie Kinder, der Bund und die Unternehmen (13 Mal) gemeinsam liegt mit zwölf Erwähnungen knapp dahinter, auf Augenhöhe mit "streben", einer legendären Kompromissformel, die alles verspricht und alles offenlässt.
Danke für die linguistische analyse, sehr erheiternd.
AntwortenLöschen