Samstag, 5. November 2016

Deutschsein damals und heute

Vor 30 Jahren versuchte sich der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker an einer Definition dessen, was "deutsch" ist. Der Sproß eines alten Herrscher- und Militärgeschlechts verirrte sich dabei in einer kulturalistischen, an Blutlinien und Abstammungsgedanken orientierter Deutung. Weizsäcker zeigt sich hier als Mann der Vergangenheit, als Ewiggestriger, als Träumer von einer nationalen Seele, einer engstirnigen Leitkultur, die vom fortwährenden Ausschreiten der Moderne inzwischen längst niedergetreten wurde.

PPQ prangert die auf einen falschen Weg weisende Interpretation des letzten Bundespräsidenten, der noch eigenhändig bei einer Maschinengewehrkompanie des Potsdamer Infanterie-Regimentes 9 der Wehrmacht gedient hatte, durch reine Dokumentation an, auf dass kommende Generationen sich den verheerenden Geist des bis heute hochgeehrter CDU-Politikers als Warnung dienen lassen: Deutschsein als "naturgegebener Sachverhalt"? Deutschsein, weil man in Deutschland geboren ist? Deutschsein als "historisch gewachsenen Form"? Deutsche "Merkmale, die uns von anderen Völkern unterscheiden"?

Was einst unwidersprochen blieb und die Beliebtheit des Präsidenten nur noch erhöhte, erscheint heute wie eine Parolensammlung der rechtsfaschistischen Identitären Bewegung.  Der Jammer über das schwere Erbe ist da, der Bezug zum deutschen Blut, die Berufung auf "geistige Kraft, soziale Struktur und wirtschaftliche Leistung", dazu die Verharmlosung der Hitlerverbrechen als "radikal" und der entschuldigende Hinweis auf den Nationalismus, der "bei allen Völkern" erhalten geblieben sei.


Richard von Weizsäcker: Was ist das eigentlich: deutsch?

Deutsch zu sein ist zunächst ein naturgegebener Sachverhalt. Es ist die Folge der Tatsache, in Deutschland geboren und aufgewachsen zu sein, die deutsche Sprache zu sprechen, sich natürlicherweise hier zu Hause zu fühlen und damit Teil des eigenen Volkes zu sein. Ich bin Deutscher, wie ein Franzose ein Franzose ist oder ein Italiener ein Italiener. Dies ist weder ein Makel noch ein Verdienst. Man hat es sich nicht ausgesucht, genausowenig wie die Zeit, in der man lebt und die einen prägt, das ausgehende 20. Jahrhundert.

Die Tatsache, daß ich Deutscher bin, durchdringt mein Leben auf vielfältige Weise, ob ich mir dessen bewußt bin oder nicht. Die deutschen Traditionen der Geschichte, des Geistes und der Kultur, der Gefühle, des Glaubens haben meine Geschichte, meine Kultur, meine Gefühle und meinen Glauben mitbestimmt. Mit diesen Traditionen muß ich mich auseinandersetzen, sei es in Zustimmung, Ablehnung oder Gleichgültigkeit. Mein Deutschsein tritt mir in der historisch gewachsenen Form entgegen, die es in meiner Zeit angenommen hat. Ich werde durch sie bedingt, aber ich bin ihr nicht willenlos ausgeliefert.

Denn der Mensch ist frei. Auch wenn er nicht über Zeit und Ort seiner Geburt verfügt, so kann er doch die Bedingungen beeinflussen und ändern, unter denen er lebt. Er kann den historisch überlieferten Traditionen einen neuen Inhalt geben. Das hat der Mensch stets unternommen. Alle menschliche Geschichte ist Handlung, Veränderung. Damit ist die Geschichte selbst der wichtigste Beleg menschlicher Freiheit, den wir haben.

Betrachtet man die Dinge so, dann ist mein Deutschsein kein unentrinnbares Schicksal, sondern vielmehr eine Aufgabe. Die Frage, was das eigentlich sei: deutsch?, ist dann eine Frage, die ich vor mir selbst und vor der Geschichte beantworten muß. Ich bin mitverantwortlich, daß dieser Begriff einen Inhalt hat, den ich verantworten kann. Um meinen Begriff des Deutschen zu finden, muß ich mich mit der Geschichte des Begriffes, mit seinem Inhalt und damit mit der Geschichte der Deutschen auseinandersetzen.

Diese Auseinandersetzung ist für uns Deutsche in der heutigen Zeit schwer. Die Geschichte des Deutschen Reiches in diesem Jahrhundert und die im deutschen Namen begangenen Untaten haben den Begriff deutsch verunstaltet und schließlich Deutschland geteilt. Viele meinen, daß wir Deutsche in eine Identitätskrise geraten seien. Wenn man von einem Menschen sagt, er habe seine Identität verloren, dann meint man damit, er sei krank. Sind wir Deutsche in diesem Sinne krank? Haben wir die Orientierung für unsere Geschichte und unser Wesen verloren? Wissen wir nicht mehr, wer oder was wir sind?

Davon kann nach meiner Überzeugung keine Rede sein. Wir haben unsere Merkmale, die uns von anderen Völkern unterscheiden. Wir finden sie in unserer Geschichte und geographischen Lage, unserer Sprache und Kultur, in der geistigen Kraft und der Staatlichkeit, der sozialen Struktur und der wirtschaftlichen Leistung der beiden deutschen Staaten, in den Beziehungen zu Nachbarn und anderen Völkern. Das Erbe unserer Geschichte hat uns helle und dunkle Kapitel überantwortet. Es enthebt uns nicht der Aufgabe und beraubt uns nicht der Fähigkeit, uns mit diesen Merkmalen auseinanderzusetzen. Wir sind Menschen wie andere auch.


Der Nationalismus blieb in allen europäischen Staaten bestehen. In Deutschland staute er sich an und nahm auf dem Boden einer schweren sozialen und wirtschaftlichen Not extreme Formen an. Hitler erhob die deutsche Nation zum obersten aller Werte. Er sprach ihr das Recht zu, die Welt zu beherrschen, nur weil sie die deutsche war. Diesen furchtbaren Unsinn suchten er und seine Anhänger historisch und biologisch zu untermauern.

Sie schrieben die Geschichte um, radikaler als jemals zuvor. Die Erklärung für die einmalige Besonderheit der deutschen Nation wurde in der Natur gesucht, in der deutsch-germanischen Rasse. Ihr wurde das Recht zugesprochen, andere Rassen als minderwertig abzuqualifizieren, ja ein ganzes Volk, die Juden, aus rassischen Gründen physisch auszurotten. Konsequenz dieser grauenvollen Anschauungen war der Krieg mit der halben Welt. Im besetzten Gebiet wurden Juden und andere zusammengetrieben und ermordet. Der Völkermord nahm seinen Lauf. Dies alles geschah ausdrücklich im deutschen Namen. Deutschland wurde zerstört, besiegt, besetzt und geteilt. Das Wort deutsch, was bedeutet es danach?

Was ist, unter dem Aspekt der Sprache betrachtet, deutsch? Wir haben uns darauf verständigt, die deutsche Hochsprache als deutsch zu bezeichnen. Sie ist eigentlich eine Mischung aus verschiedenen Sprachen, deren Elemente die sächsischen Hofkanzleien zu einer neuen Kunstsprache vereinigt hatten. Martin Luther erfüllte sie mit lebendigem Leben. Wir haben uns angewöhnt, das Friesische, das Alemannische, das Bayerische, das Hessische und andere als deutsche Dialekte zu betrachten. Diese Dialekte sind aber eigentlich die ursprünglichen deutschen Sprachen.


Eine wesentliche und besonders schwierige Rolle spielt bei einer Definition die Geographie. Was ist deutsches Land? Wenn man in einem historischen Atlas Europas blättert, findet man nahezu auf jeder Seite ein anderes Reichsgebiet, welches je nach der Einstellung ganz oder teilweise als deutsch bezeichnet wird.

Inmitten einer verwirrenden Fülle, die uns begegnet, wenn wir Sprache, Geographie und Geschichte zu Rate ziehen, um zu erfahren, was deutsch ist, gibt es auch den Versuch, bleibende Grundelemente eines deutschen Volkscharakters zu finden. Otto Bauer hat die Nation als eine »aus Schicksalsgemeinschaft erwachsene Charaktergemeinschaft« beschrieben. Was das Schicksal ausmacht und ob es Ursache oder Folge eines deutschen Charakters ist, mag dahinstehen.

Die Frage nach dem Charakter ist jedenfalls oft und mit ebenso vielfältigen wie interessanten Ergebnissen gestellt worden. Nach Tacitus waren die Germanen von reinen Sitten, gastfreundlich, stolz, tapfer und edel. In der Zeit der Völkerwanderung wurden die Germanen als wild und grausam geschildert, eine geschichtliche Erinnerung, die sich bis heute mit dem germanischen Volksstamm der Vandalen verbindet.

Die deutsche Klassik wollte uns zum Volk der Dichter und Denker läutern. Zur Zeit des Biedermeier galt politisch machtlose Krähwinkelei als ein deutsches Charakteristikum. Einmal empfand man Leidenschaft und Kraft des »Sturm und Drang« als typisch deutsch, ein anderes Mal die in sich schwingenden Lieder der Seele und der Natur von Eichendorff. Einmal wird unsere besondere Begabung in der Musik gesehen, ein anderes Mal unsere angeblich besondere Fähigkeit zu Fleiß und Disziplin, verwendbar zum Guten wie auch zum sehr Bösen. Die einen sprechen uns die Fähigkeit zur Eleganz ab und attestieren uns lieber den derben Witz von Hans Sachs, während andere gerade in der geschliffenen Sprache Lessings, Heines oder Nietzsches deutschen Geist ausmachen.


Die deutsche Geschichte ist 1945 nicht zu Ende gegangen. Seit vier Jahrzehnten gibt es auf deutschem Boden eine freiheitliche Demokratie. Auch dies ist ein Teil unserer Geschichte – ein guter Teil. Wenn heute von den Deutschen die Rede ist, dann werden Freiheit, soziale Rechtsstaatlichkeit und Demokratie mitgedacht.

Besonders schwer lastet auf uns die Teilung. Die Menschen in der DDR tragen am schwersten an ihr. Sie leben in einem Staat und Bündnissystem des »real existierenden Sozialismus«, der ihre Erfahrungen und ihr Leben existentiell mitbestimmt. Der Begriff deutsch ist wesentlich vom politischen Schicksal der Teilung gezeichnet, aber er hat nicht selbst die Teilung mitgemacht. Die Menschen in der DDR sind Deutsche wie wir.

Deutschland bleibt freilich trotz doppelter Randlage von den Bedingungen seiner Lage in der Mitte Europas geprägt. Zwar ist diese Mitte geteilt, aber sie bleibt Mitte. Zwei Grunddaten sind es, die sich in dieser Lage besonders auswirken.

Das erste ist die Westbindung der Bundesrepublik Deutschland. Wir gehören in den Kreis der westlichen Demokratien. Diese Westbindung unseres freiheitlichen und sozialen Rechtsstaates ist endgültig und unwiderruflich. Es ist die innere Wertordnung, die uns mit denen zusammenbindet, welche denselben inneren Prinzipien verpflichtet sind.

Das zweite Grunddatum ist unsere Zusammengehörigkeit mit den Deutschen in der DDR. Daraus ergibt sich unser besonders unterstrichenes, schon durch unsere geographische Mittellage vorgegebenes Ziel, mit allen unseren näheren und ferneren Nachbarn im Osten trotz unterschiedlicher innerer Systeme in Frieden aus zukommen. Die Mitte des Kontinents soll nicht Konflikte schüren, sondern blockübergreifende Kräfte der Friedensförderung stärken. Dies ist für die Deutschen im Zeichen der Teilung und im Atomzeitalter noch dringlicher als zu Zeiten Bismarcks oder gar König Heinrichs.

Die Lage, die sich aus unserer Westbindung und unserem Willen zum Ausgleich mit dem Osten ergibt, wird oft als unbequem empfunden, von Deutschen ebenso wie von unseren Nachbarn. Wahr ist, daß die Teilung den Menschen schwere Lasten auferlegt und daß sie ihnen Menschenrechte vorenthält. Wahr ist auch, daß es eine deutsche Frage gibt, die offen ist und unbequem.

Eine treffende Formulierung lautet: Die deutsche Frage ist solange offen, als das Brandenburger Tor verschlossen ist. Damit ist der Kern der offenen deutschen Frage charakterisiert. Er betrifft die Freiheit der Menschen. Nirgends ist er deutlicher spürbar als im Zentrum des geteilten Berlin. Aber er betrifft nicht weniger alle Deutschen und alle Europäer.

Auch heute bewegt sich die deutsche Frage im Spannungsfeld von Einheit und Freiheit. Aber es ist anders als damals. Der Kern der deutschen Frage ist die Freiheit. Ein Fortschritt in der deutschen Frage um den Preis von Freiheit wäre ein Rückschritt.

Geteilt sind nicht nur Berlin und Deutschland, geteilt ist die Gemeinschaft der Europäer. Die europäischen Mächte haben lange genug gegeneinander um Gleichgewicht oder Vormacht gekämpft. Sie hatten zwar dieselben historischen und kulturellen Wurzeln. Aber im Kampf um die Macht und durch die Übersteigerung der Nationalismen trat das Bewußtsein der Gemeinschaft der europäischen Völker in den Hintergrund.

Auch bei der europäischen Konferenz für Sicherheit und Abrüstung in Helsinki ging es um diese Themen. Einheit der Europäer heißt nicht staatliche Einheit oder Gleichheit der Systeme, sondern ein gemeinsamer Weg bei menschenwürdigem Fortschreiten in der Geschichte. Die deutsche Frage ist in diesem Sinn eine europäische Aufgabe. Für ein solches Ziel in Europa mit friedlichen Mitteln zu wirken, ist vor allem Sache der Deutschen.

Quelle: Richard von Weizsäcker, „Was ist das eigentlich: deutsch?“, in
Reden und Interviews, Bonn, 1987, Bd. 2, S. 395-412
Bundespräsident Richard von Weizsäcker über „Deutsch-Sein“ (1986)

3 Kommentare:

  1. Demokrat sein heute.

    http://www.zerohedge.com/news/2016-11-05/spirit-cooking-wikileaks-publishes-most-bizarre-podesta-email-yet

    The Podestas‘ „Spirit Cooking“ dinner?
    It’s not what you think.
    It’s blood, sperm and breastmilk.
    But mostly blood.

    https://t.co/gGPWFS3B2H
    https://pic.twitter.com/I43KiiraDh

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  2. Gut, es liest sich wie Pegida-Deutsch, aber die Formulierung
    "Es ist die Folge der Tatsache, in Deutschland geboren und aufgewachsen zu sein, ..." enthält schon das Glockenläuten unserer neueren, besseren Betrachtungsweise.

    Zwar kennen das Grundgesetz und meine Wenigkeit persönlich z.B. Deutsche, die weder in Deutschland geboren noch aufgewachsen sind, ja manchmal nicht einmal Deutsch sprechen, weil´s in ihrer Diaspora verboten war, zwar sind Türken auch in dritter und vierter in Deutschland geborener Generation oft stolze Türken statt Ersatzdeutscher, doch wissen wir es heute besser: Deutscher ist, wen ein Beamter dazu ernennt!

    Außerdem kommen bald die Schwarzafrikaner, und die haben schon immer gerne geschuhplattelt.

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  3. Ich versuche tief durchzuatmen, zum Hara, - aber: Pittiplatsch der liebe glaubt allen Ernstes - daß der hohle Graus tatsächlich stattgefunden hätte? Ogottogott. Heil Lengsfeld.
    Wenn man den zyanidverseuchten Sumpf austrocknen will, muß man nicht den Frosch Gysi fragen.

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