Mittwoch, 6. Juli 2016

Europa: Die Einheit aus dem Kochtopf

Wird ein Frosch langsam gekocht, merkt er gar nicht, dass er tot ist.
Der britische Parallelphysiologe James Kenna spricht im Interview mit PPQ über den Brexit, das Ausscheiden bei der EM, die Fehler der EU und die Folgen des Nationalismus als politisches Instrument zur Erfüllung geheimer Wünsche.

Professor Kenna, hat die EU jetzt noch eine Chance auf eine tragfähige Zukunft?

Kenna: Jetzt erst recht! Sie muss erkennen, dass nur eine von Rechts- und Wirtschaftslehre getragene Tagesordnung nicht ausreicht, der Unzufriedenheit und Unsicherheit der Menschen zu begegnen; im Gegenteil, dies ist ganz unbefriedigend. Ohne Großbritannien wird es aber leichter werden, wirklich voll zu integrieren, also die Nationen perspektivisch in einer einzigen europäischen Identität aufzulösen. Dazu brauchen wir schnell einheitliches Geld für alle, einheitliche Gesetze, Regeln, Sitten und Gebräuche. Eine einzige Hymne, eine einzige Nationalmannschaft, einheitliche Speisen und Getränke, das wäre ein Symbol.

Wer muss jetzt als Gestalter auftreten? Deutschland und Frankreich vor allem – wobei Letzteres ja zurzeit sehr schwach zu sein scheint?

Kenna: Das ist die Allianz, die im Kern immer noch steht. Frankreich muss stärker werden, aber mit Deutschland und Frankreich sollten auch andere wichtige Mitglieder zusammenstehen – Italien, die Niederländer, Spanien, vielleicht Polen, das winzige Luxemburg, all die anderen, von denen man so oft den Namen nicht weiß. Es kommt jetzt darauf an, zu zeigen, dass Europa durch eine kleine Ohrfeige nicht von seinem prinzipiell richtigen Weg abzubringen ist. Europa wird sich einigen, es wird geeinigt werden, es wird geeinigt auftreten und es wird wieder Weltmacht sein, wie das Martin Schulz schon vor Jahren angekündigt hat.

Ausgerechnet mit dem von vielen Menschen leichtfertig bejubelten Sieg der Isländer bei der EM – gegen ein schwaches England – zeigt sich aber, das Größe nicht alles ist. Plötzlich schallte wieder überall das Loblied auf die sogenannte "Nation".

Kenna: Es muss die richtige Größe sein. Für eine kleine, kaum wahrgenommene Nation wie Island ist es sogar in Ordnung, nationale Gefühle zu pflegen. Das kann integrierend wirken, indem es andere ausschließt. Ein großes Land wie Deutschland kann das nicht, denn große Gemeinschaften schließen zwar weniger Menschen aus als kleine, das wird aber weniger akzeptiert.

Was ist mit den widerlichen rechten Populisten, den Menschenfängern des Bösen, den gefährlichen Clowns und Zweiflern? Werden sie nun ihre Chance wittern und vielleicht auch nutzen können?

Kenna: Für eine entfremdete, klassenlose, religionslose Bevölkerung, die Schwierigkeiten dabei hat, eine politische Identität zu finden, werden Nation und Nationalismus nun zu Vehikeln. Das Problem ist, dass es den europäischen Führer wie Martin Schulz und Jean-Claude Juncker, aber auch der deutschen Regierung bei aller Beliebtheit noch nicht restlos gelingt, darzustellen, wie ein Europa ohne Nationen funktionieren soll. Da ist noch viel nachzuarbeiten. In den Köpfen. Dabei empfehle aufgrund des inzwischen so schlechten Rufs Europas die sogenannte Frog-Strategie. Man kocht den Frosch, aber so langsam, dass er gar nicht merkt, dass er tot ist.

Wie könnte das denn gehen? Und wo ist das Problem?

Kenna: Das Problem ist, dass Menschen, solange sie sich kleinen Gruppen zugehörig fühlen, einer größeren Gruppe nur als Teil der kleineren Gruppen angehören. Das heißt also, dass sich ein Deutscher betrogen fühlt, wenn seine Stimme bei einer EU-weiten Wahl nur ein Siebzehntel dessen wiegt, was die Stimme eines Luxemburgers an Gewicht einbringt. Andersherum ist der Luxemburger natürlich nicht bereit, in einer Gemeinschaft mitzumachen, in der er gar nichts mehr zu sagen hat. Der Konflikt ist unauflöslich, solange wir den Menschen nichtvon Kindesbeinen an beibringen, dass sie keine Luxemburger, Deutsche, Griechen oder Portugiesen sind. Sondern alle Europäer mit denselben Träumen, Hoffnungen und Wünschen, denselben Ladenketten, denselben Steuersätzen, Verkehrsregeln und Politikern.

Die rechten Populisten werden trotzdem immer stärker, die Menschen weigern sich störrisch, ihre alten Identitäten abzulegen. Sind wir bereits in ein Zeitalter des Neo-Faschismus eingetreten?

Kenna: Genau. Es ist die Folge, dass Nationalismus sich als Kraft der politischen Identität in einer Zeit erweist, die voll mit so vielen Problemen wie „Fremden“ – Globalisierung, Zuwanderern, Flüchtlingen, Terroristen, internationalen Finanzmärkten – ist. Der Nazismus, der Faschismus, sie waren noch niemals so mächtig wie heute.

Wo verläuft der Riss in Europa: In Großbritannien waren die jungen Menschen pro-europäisch, aber sie sind nicht wählen gegangen. Die älteren haben ihr Wahlrecht genutzt, aber falsch abgestimmt. Was macht man da?

Kenna: Ja. Die vorwärtsorientierten Teile des Landes waren für Europa: junge Leute, kluge, gebildete, hübsche, das großstädtische London mit seinen Boutiquen, Bankentürmen, Steuersparern, Boni-Profiteuren, den Frauen in hochhakigen Schuhen mit freizügigen Ausschnitten und kurzen Röcken. Draußen auf dem Land aber, wo die dümmeren Teile der Bevölkerung leben, alt, dick, hässlich, ungebildet, ohne Überblick darüber, was wirklich zählt, wurde der Brexit als ein Aufstand der Vergangenheit missbraucht, missbraucht von Menschen, denen meist die Intelligenz fehlt, die Wahrheit zu erkennen. Hier liegt das Problem für eine neue rechtsorientierte Regierung: Wie können sie Leute, die Sicherheit und Schutz suchen, durch eine unsichere, noch neoliberalere Welt führen? Ohne die helfende Hand Brüssels, ohne Fördermittel, ohne gemeinsame Regeln. Wo das endet, kann man in der Schweiz sehen. Hunger, Armut, Elend.

Welche Rolle kann Europa nun in der Welt spielen? Gelingt es uns, wirklich eine Weltmacht zu werden wie das die Deutschen, die Spanier, die Franzosen, die Polen und die Italiener für sich immer erträumt haben ?

Kenna: Europa bleibt der größte Wirtschaftsraum der Welt und schafft als solches die Normen, denen der Rest der Welt folgen muss. Das ist etwas, was die Briten überhaupt nicht verstehen: Ohne uns geht nichts, wir sind der Schaum der Welt, die Creme der Erde.





2 Kommentare:

  1. So übersetzt versteht man die beiden viel besser. Genau das stand unausgesprochen als Konsens zwischen Befrager und Antworter - nur darf man so (noch) nicht reden.

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  2. wir sind der Schaum der Welt

    Genauso ist es. Und unsere Führerpersönlichkeiten sind die Schaumschläger.

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