Schwierige Zeiten, wenn der Deutsche Arbeitgeberverband Interviews führen lassen muss, um Tätigkeitslücken der selbsternannten Qualitätsmedien in Handarbeit auszugleichen. Das Interview mit Ralph Thiele, einem Obersten a.D. und Vorsitzender der übertriebener Russland-Versteherei unverdächtigen Politisch-Militärischen Gesellschaft e.V. ist umso lesenswerter, als der frühere Regierungsberater Thiele trotz - oder wegen - seiner unbestreitbaren Kompetenz noch nie von einem großen deutschen Medium zur Sache gehört wurde. "Was, um Himmels willen, machen wir Deutsche dort mitten in der Krise?", fragt er sich, wie sich rundherum so viele fragen. PPQ hat das von Holger Douglas geführte Interview ungekürzt übernommen, es erfolgte diesmal auch keine Übersetzung aus dem Propagandistischen ins Deutsche.
Was haben die Sanktionen der westlichen Länder bisher in Russland bewirkt? Die Oligarchen sind empfindlich getroffen, aber haben sie auch die Macht, sich zu wehren? Und bemerkt das arme Volk überhaupt etwas von den Sanktionen?
Ralph Thiele: Die Sanktionen treffen Russland und die russische Wirtschaft hart. Dienstleistungs- und Warenströme müssen neue Wege und Märkte suchen. Die Oligarchen müssen Milliardenverluste verkraften. Vor allem die Banken leiden unter der Rubelkrise – viele wackeln bereits. Demnächst stehen Konkurse an. Die Folgen werden in Kürze auch die Menschen treffen. Bald wird dem Kreml nichts anderes übrig bleiben, als Steuern anzuheben, um die Krise abzufedern. Preise werden steigen. Dies wird die sozialen Spannungen in Russland verschärfen. Der bröckelnde Tourismus signalisiert die neue Lage. Viel weniger russische Bürger als bisher konnten sich 2014 in Auslandsurlauben ein persönliches Bild von den freiheitlich westlichen Demokratien machen. Dort kann man sich langsam auf eine Zuwanderungswelle junger, gut gebildeter Russen vorbereiten.
Was, vermuten Sie, treibt Putin an? Häufig verdecken Politiker mit außenpolitischen Kraftmeiereien innen– und wirtschaftspolitische Schwierigkeiten. Denken Sie, daß es hier auch so ist?
Ralph Thiele: Eher nicht. Vor der Ukrainekrise war Russland auf Wertschöpfungs- und Diversifizierungskurs. Man wollte mit erheblichen Investitionen und in enger Zusammenarbeit mit westlichen Partnern die eigene schwache wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auf ein belastbareres Fundament stellen. Dabei war Russland ein eigenwilliger, schwieriger, bedeutungshungriger, aber zugleich zunehmend kooperativer Partner des Westens.
Außen- und sicherheitspolitisch sah Russland in den vergangenen zwei Jahrzehnten seine strategischen Risiken vor allem im Süden und nicht im Westen. Im Zuge der ukrainischen Krise hat sich diese Wahrnehmung radikal verändert. Strategische Bedrohung aus dem Westen erscheint Russland wieder möglich. Im Grunde unterstellt man den USA ‚Regime-Change' Absichten mit zumindest fahrlässiger Beihilfe der Europäischen Union. Das ist auch die Hauptquelle des Vertrauensverlustes.
Putin beobachtet schon seit Jahren misstrauisch eine zunehmend ungenierte westliche Attitüde, unter dem Deckmantel von Menschenrechten das Recht des Stärkeren zu Lasten der Stärke des Rechts den Vorzug zu geben. Beispiele hierfür sind aus seiner Sicht der Kosovo und die Anerkennung dessen völkerrechtlich umstrittener Unabhängigkeitserklärung, der Einmarsch in den Irak und Afghanistan, die ungenierte Unterstützung des "Arabischen Frühlings", die Drohneneinsätze der USA unter Verletzung fundamentaler Souveränitätsrechte anderer Staaten etc. Auch der Regimewechsel in der Ukraine wurde aus russischer Sicht massiv vom Westen unterstützt und hat ein fragiles Gleichgewicht innerhalb des Staates zerstört mit massiven negativen Folgen. Für Putin war es der entscheidende Schritt über die rote Linie.
Als Janukowitsch im Februar 2014 vor dem Druck einer aufgeputschten Bevölkerung nach Russland floh, entstand eine neue Regierung in Kiew, die im Kern pro-westlich und anti-russisch war. Auch wenn das volle Ausmaß der US-Beteiligung an diesen Vorgängen noch unklar ist, steht wohl fest: Washington hat den Putsch unterstützt. Es gab und gibt erhebliches U.S.- Engagement zur Förderung von Demokratie und westlichen Werten in der Ukraine – darunter Geld für Demonstranten, private Sicherheitskräfte in Kiew, erhebliche NGO-Finanzierung zur Förderung der Westbindung der Ukraine bis hin zu intensivem geheimdienstlichen Engagement.
Vor diesem Hintergrund hat sich für Putin das bisherige Modell der Beziehungen Russlands zum Westen erschöpft, das sich seit Gorbatschow von dem Grundsatz leiten ließ, dass ein konstruktives Verhältnis zum Westen – trotz aller Differenzen in Teilfragen – ein Wert an sich und unentbehrlich für Russlands Sicherheit ist.
Angesichts der Bedeutung der Krim für die russische Nahrungsmittelversorgung, der politisch-strategischen Bedeutung der Ukraine für die Wirtschaft und - mehr noch - die nationale Sicherheit Russlands entwickelte sich die Krise zu einer Art Showdown, den Russland glaubt, gewinnen zu können. Für Putin ist jetzt Zeit der Abrechnung für das, was Russland aus seiner Sicht als ein Vierteljahrhundert der Respektlosigkeit, der Demütigung und des diplomatischen Mobbings wahrgenommen hat.
Wie stark ist Putin wirklich?
Ralph Thiele: Russische Langstreckenbomber an den Grenzen des NATO-Luftraums verursachen Alarmstarts von NATO-Abfangjägern. Russische U-Boote in NATO-Gewässern lösen aufwändige Suchoperationen aus. Die NATO erfährt in der Ukraine-Krise, dass sie ihre Souveränität im Luftraum, im Seeraum oder auch im Cyberraum nicht effektiv schützen kann.
Als Reaktion auf die geplante ballistische Raketenabwehr der NATO entlang Russlands Grenze werden 50 Nuklearraketen in den Dienst gestellt, die diesen Schirm durchbrechen werden können.
Noch bis 2020 läuft ein 300 Mrd. US$ Modernisierungsprogramm der russischen Streitkräfte, während die Schwindsucht der militärischen Fähigkeiten des transatlantischen Bündnisses anhält. Auch die USA fahren ihre Militärausgaben, wenngleich auf hohem Niveau, um knapp ein Viertel zurück – und relevante europäische militärische Fähigkeiten sind weiterhin nicht in Sicht.
Putin will ernst genommen werden. Deshalb wird er die russischen Streitkräfte trotz der sich verschärfenden Wirtschaftskrise wie geplant modernisieren. Der Spott von US-Präsident Barack Obama über Russland als Regionalmacht hat ihn verletzt. Amerikanische und NATO-Manöver auf ukrainischem Boden und in ukrainischen Häfen besorgen und provozieren ihn – übrigens unter Beteiligung der Bundeswehr im September des vergangenen Jahres. Vom 11. bis zum 28. September 2014 veranstaltete die NATO beispielsweise unter Leitung des US European Command das Manöver »Rapid Trident 14« auf einem Truppenübungsplatz im Westen der Ukraine. Bei der kombinierten Land- und Luftwaffenübung waren etwa 1300 Soldaten aus 16 Nationen, darunter auch drei Soldaten der Bundeswehr beteiligt.
Das »Center of Gravity« des Systems Putin ist der Energieexport. Russland kann sich materiell allein auf Rohstoff- und Energieexport stützen. Putin braucht die Rohstofferlöse zur Unterstützung wichtiger Machteliten. Darüber hinaus ist die wirtschaftliche Basis für Putins Ansatz schwach. Unterm Strich vergrößert die Leidensfähigkeit des russischen Volkes Putins zeitlichen Spielraum; dauerhaft niedrige Ölpreise verringern ihn dagegen.
Innenpolitisch konzentriert sich das System auf Nationalismus. Dieser wird durch die erfolgreiche Demonstration militärischer Macht befeuert. Die in den vergangenen Jahren erheblich verbesserte Leistungsfähigkeit der Streitkräfte gestattet Säbelrasseln unterhalb der Schwelle des Krieges und unterlegt Putins Strategie nach innen. Er hat für diesen Kurs eine hohe Zustimmung in der eigenen Bevölkerung. Er provoziert und setzt nach, wo der Westen zurückweicht.
Da der Westen an seinen Zielsetzungen bezüglich der Ukraine festhält, hat sich Russland zu einer – für alle Beteiligten - kostspieligen Beschäftigungstherapie entschlossen. Man hält die Ukraine in einem dauernden Schwebezustand zwischen Krieg und Frieden, damit das Land keine Kraft hat, das Assoziierungsprogramm mit der EU umzusetzen und einen demokratischen Rechtsstaat aufzubauen. Dann kann er verkünden, dass das Assoziierungsprogramm gescheitert ist und damit das europäische Modell. Für Moldowa und Georgien, die ebenfalls den Weg der EU-Assoziierung gehen wollen, ist das eine handfeste Warnung: Sie müssen ggf. mit Krieg in ihren Ländern rechnen. Putin geht davon aus, dass der Westen wegen der Ukraine keine massive Konfrontation mit Russland wagen wird.
Offenkundig ist: Es ist jegliches Vertrauen zwischen beiden Seiten verspielt worden. Es scheint noch nicht mal mehr einen inoffiziellen, direkten Draht zu geben. Wie konnte es so weit kommen?
Ralph Thiele: Der Vertrauensverlust hat einen langen Vorlauf mit drei Schlüsselerfahrungen auf russischer Seite: Für Russland liegt die Wurzel des Übels in der NATO-Erweiterung. Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich die russische Führung strikt gegen die NATO-Erweiterung ausgesprochen. Insbesondere in den letzten Jahren hat Russland deutlich gemacht, dass es nicht einfach zusieht, wenn seine strategisch wichtigen Nachbarn in eine westliche Bastion umgestaltet werden sollen. Als auf dem NATO-Gipfel 2008 in Bukarest erstmals der mögliche Beitritt von Georgien und der Ukraine thematisiert wurde, unterstützte George W. Bush deren Beitrittswunsch, während Frankreich und Deutschland besorgt waren, damit Russland nachhaltig zu verärgern.
Die NATO-Staaten einigten sich damals auf einen Kompromiss: Die Allianz begann nicht den formalen Prozess, der zur Mitgliedschaft führt, aber begrüßten in einer Erklärung die Bestrebungen Georgiens und der Ukraine. Alexander Grushko, der damalige stellvertretende Außenminister Russlands, kommentierte lakonisch, »dass die Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine in der Allianz ein großer strategischer Fehler wäre, mit schwersten Folgen für die gesamteuropäische Sicherheit.«
Das Engagement des Westens führte wiederholt zu blutigen Bürgerkriegen. Aus russischer Sicht gab es hier eine Serie von Völkerrechtsverletzungen seitens des Westens begleitet von einer indirekten Begleitung der aktiv angestrebten, gewaltsamen Regierungswechsel durch sogenanntes »Social Engineering« – die Einbindung von NGOs zur Förderung unzufriedener sozialer Gruppen. Genau diese "modernen Formen der Aggression gegen Russland" wirft Moskau derzeit dem Westen vor.
Entscheidung der NATO, ein System ballistischer Raketenabwehr in Osteuropa zu stationieren. Russland hat dem Westen nie das Argument abgenommen, das System sei nicht gegen Russland gerichtet, sondern eine Reaktion auf die Bestrebungen des Irans, Atommacht zu werden. Für Russland war diese Entscheidung ein eindeutig feindseliger Akt gegen das russische strategische Dispositiv.
Im Grunde hat der Westen Schritt für Schritt Sensitivität, Fachwissen und auch Respekt gegenüber Russland und dessen strategischen Interessen verloren. Früher gab es beispielsweise Heerscharen von sogenannten "Sowjetologen", die sich mit allen denkbaren Aspekten russischer Planungen, Fähigkeiten und Befindlichkeiten im Detail auskannten. Mit dem Fall der Mauer konnten sie sich neue Jobs suchen. Heute fehlt deren Expertise.
Die gegenwärtige Absenz von Vertrauen reflektiert schlechte Erfahrungen miteinander. Die Absenz von direkten Drähten – wie beispielsweise Egon Bahr für lange Jahrzehnte als Mittelsmann der SPD für kritische Ost-West-Themen – offenbart Ignoranz, fehlendes Urteilsvermögen und mangelnden Respekt.
Hier brauchen wir dringend wieder die Fähigkeit, wie es Hans-Dietrich Genscher kürzlich so treffend formulierte, sich in die "Schuhe des anderen" zu stellen.
Vor allem in den baltischen Ländern blickt man mit größer werdender Furcht auf Russland. Dort ist die Erinnerung an die Zeiten des Ostblocks noch hellwach. Und immerhin hat die russische Armee direkt vor ihrer Haustür ihren neuen hybriden Krieg geübt. Russische Atombomber fliegen bis an die Grenzen zum Westen, teilweise offenbar darüber hinaus. Verstehen Sie die Sorgen der Balten? Sehen Sie eine Kriegsgefahr?
Ralph Thiele: Strategie zielt auf die Durchsetzung eigener Ziele und Zwecke auch gegen Widerstände. Diesen Weg geht Russland ganz offensichtlich mit Blick auf die Ukraine. Russland hat bisher die Initiative, täuscht und droht und zwingt den Westen zur Reaktion. Die Welt erlebt, wie dosierte und verdeckte militärische Aggression von Diplomatie, Informationskriegsführung, Propaganda, humanitären Aktionen, Cyberwar, Geheimdienstoperationen, Wirtschaftsinitiativen und innenpolitischen Repressionen abgeschirmt und begleitet wird.
Der damals frisch bestellte russische Generalstabschef Walerij Gerassimow hat Ende Januar 2013 in seiner Rede vor der Jahresversammlung der Russischen Akademie für Militärwissenschaft seine Vorstellungen moderner russischer Operationen öffentlich beschrieben. Er erläuterte, daß sich die Grenzen zwischen Krieg und Frieden auflösen. Kriege würden nicht mehr erklärt, und sie verliefen nach einem »ungewohnten Muster«.
Ein prosperierender Staat könne - als Opfer einer ausländischen Intervention - in kurzer Zeit in einen Schauplatz erbitterter bewaffneter Auseinandersetzungen verwandelt werden mit Ausprägungen wie Chaos, humanitären Notlagen und Bürgerkrieg inklusive. Grundlage seiner Überlegungen war eine sorgfältige Analyse der »Farbenrevolutionen« in Nordafrika und im Nahen Osten. Er forderte seine Zuhörer auf, von Siegern (er meinte die westlichen Staaten) das Siegen zu lernen.
Politische Ziele seien nicht mehr in erster Linie mit konventioneller Feuerkraft zu erreichen, sondern durch den - so Gerassimow wörtlich - "breit gestreuten Einsatz von Desinformationen, von politischen, ökonomischen, humanitären und anderen nichtmilitärischen Maßnahmen, die in Verbindung mit dem Protestpotential der Bevölkerung zum Einsatz kommen".
Der russische Begriff dafür ist "nichtlineare Kriegsführung". Militärische Maßnahmen seien zwar erforderlich, sagte der Generalstabschef weiter, aber sie müssten einen "verdeckten Charakter" haben: Dazu gehörten Angriffe auf Informationssysteme und der Einsatz von Spezialtruppen. "Der offene Einsatz von Truppen – oftmals unter dem Deckmantel von Friedenserhaltung und Krisenbewältigung – kommt erst zu einem späten Zeitpunkt in Betracht, vor allem, um in einem Konflikt endgültig zu gewinnen", so Gerassimow. Entscheidend dafür seien "Geschwindigkeit, schnelle Bewegungen, der kluge Einsatz von Fallschirmjägern und das Einkreisen feindlicher Kräfte".
Das von ihm umrissene Einsatzkonzept wurde von den russischen Streitkräften im September 2013 tatsächlich geübt. Die Übung ZAPAD in Kaliningrad sowie an der russischen Westgrenze zum Baltikum und in Weißrussland diente als praktische Vorbereitung. Offiziell wurde die gemeinsame Verteidigung russischer und weißrussischer Einheiten gegen einen Angriff »illegaler bewaffneter Gruppen« auf Weißrussland geübt.
Tatsächlich war es eine Art Generalprobe für den späteren Einsatz auf der Krim und im Osten der Ukraine. Zum Teil handelte es sich sogar um dieselben Bataillone. Offiziell wurden von beiden Staaten nur 12.900 Soldaten für die Übung angemeldet, da dies unterhalb der Schwelle liegt, jenseits der westliche Beobachter hätten zugelassen werden müssen. Nach Schätzung der NATO waren tatsächlich jedoch rund 70.000 Soldaten eingebunden.
Die Übung hatte übrigens eine zweite beunruhigende Botschaft: Der Gegenschlag der Verteidiger zielte auf die Eroberung des gesamten Baltikums. Die Balten haben also tatsächlich Grund zur Sorge.
Der "graue Eminenz der amerikanischen Außenpolitik", Zbigniew Brzeziński, kommt in seinem Buch "Das große Schachbrett" von 1997 zu dem Schluß, daß das erste Ziel amerikanischer Außenpolitik darin bestehen muß, »daß kein Staat oder keine Gruppe von Staaten die Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder auch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen«. Es gelte, »die Gefahr eines plötzlichen Aufstiegs einer neuen Macht erfolgreich« hinauszuschieben. Die USA verfolgen das Ziel, »die beherrschende Stellung Amerikas für noch mindestens eine Generation und vorzugsweise länger zu bewahren«. Sie müssen »das Emporkommen eines Rivalen um die Macht (...) vereiteln«. Wie schätzen Sie seine Ansicht ein?
Ralph Thiele: Brzezińskis Ansatz ist bis heute zutreffend. Allerdings haben weder der U.S. Präsident noch die anderen westlichen Staats- und Regierungschefs das Schachbrett im Griff. Nicht zuletzt deshalb gerät die »Welt aus den Fugen«, wie es Außenminister Frank-Walter Steinmeier konstatiert hat.
Die USA spielen auf dem »Großen Schachbrett« – machtvoll und zuweilen unkoordiniert mit einer Präferenz für die militärische und wirtschaftliche Ebene.
Die europäischen Demokratien spielen überwiegend auf dem wirtschaftlichen Brett und verpassen dabei allerdings wesentliche Anteile des Spiels auf den anderen Brettern.
Diktatorische Regime wie China und Russland, sicherlich auch Nordkorea oder der Iran, nutzen sehr koordiniert – glücklicherweise noch nicht sehr wirkungsvoll – die gesamte Palette ihrer Möglichkeiten auf den verfügbaren Brettern.
In der »öffentlichen« amerikanischen Gesellschaft gibt es einen immer größeren Unwillen, Weltpolizist zu spielen. Stimmen heute noch Brzezińskis Einschätzungen?
Was die USA wollen, sagt der U.S. Präsident alljährlich in seiner "State of the Union Address", die letzte übrigens erst vor ein paar Tagen: »Meine vornehmste Pflicht als Oberkommandierender der amerikanischen Streitkräfte ist es, die Vereinigten Staaten von Amerika zu verteidigen. In diesem Zusammenhang lautet Frage nicht, ob Amerika die Welt führt, sondern wie. ... Wir führen am Besten, wenn wir militärische Macht mit starker Diplomatie kombinieren, wenn wir unseren Einfluss und unsere Macht mit Bündnissen stärken, wenn wir uns nicht von Ängsten leiten lassen, sondern vielmehr von den Möglichkeiten, die uns das neue Jahrhundert bietet. Und genau das machen wir derzeit.«
Die USA verstehen sich als globale Macht, verpflichtet auf ihre Interessen sowie ihrer Führungsrolle in der westlichen Welt und darüber hinaus. Die US-Administration unter Präsident Obama setzt – wo immer möglich - auf die Stärken multilateraler Diplomatie und das Engagement in internationalen Organisationen, behält sich aber das Recht vor, ggfs. allein zu handeln.
Dementsprechend pflegen und entwickeln die USA ihre Partnerschaften zu Freunden und Verbündeten. Sie führen Bündnisse in der ganzen Welt. Diese sind konstitutives Merkmal für die Fähigkeit der USA, weltweit wirksam zu agieren und globale Herausforderungen nachhaltig zu bewältigen, denn sie begegnen den Krisenherden in der Welt nicht nur mit eigenen Fähigkeiten, sondern darüber hinaus mit dem gesamten verfügbaren Instrumentarium aus partnerschaftlicher Kooperation.
Hauptträger der U.S.-Sicherheitspolitik sind deren Streitkräfte. Sie dienen sowohl der Abschreckung wie auch der Machtprojektion und Krisenintervention. Die USA verfügen über ein weltumspannendes Netz an Militärbasen in über 20 Ländern. Sie unterhalten darüber hinaus militärische Einrichtungen in über 130 Ländern sowie ein weltweites, dynamisch wachsendes Netz von militärischen Aufklärungseinrichtungen - vom Meeresboden bis in den Welt- und Cyberraum.
Derzeit belasten erhebliche Bürden die Performance der U.S. Außen- und Sicherheitspolitik - der problematische Nachlass der militärischen Interventionen im Irak und in Afghanistan sowie Konsequenzen der Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise.
Ist denn die Ukraine noch der Schlüsselstaat, so wie Brzeziński ihn beschreibt? Immerhin ist das Land kaputt, die Produktionsanlagen weitgehend Schrott und die Landwirtschaft in diesem Jahr wohl kaum noch in der Lage, zum Beispiel Getreide zu exportieren und damit Devisen einzunehmen. Ein übriges tun die Kampfhandlungen im Osten.
Ralph Thiele: Die Ukraine ist ein Schlüsselstaat für die russische Sicherheit und Prosperität, weniger für die Sicherheit und Prosperität des Westens. Sie ist das einzige postsowjetische Land, das den Lebensstandard der Sowjetzeit nicht erreicht hat. Es ist zu einem der ärmsten europäischen Länder geworden. 20 Jahre erfolgloser Transformation haben in der Ukraine tiefe Spurrillen und Gegensätze hinterlassen.
In der Ukraine sind die bisherigen Regierungsmodelle gescheitert. Mit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1991 erlangte die Ukraine ein schweres Erbe - Regionen mit völlig unterschiedlicher Geschichte, mit einer Fülle ungelöster ethnischer und religiöser, sozialer und wirtschaftlicher Konflikte.
Halbherzige Reformen und weitverbreitete Korruption haben zu einem dysfunktionalen System geführt. Die ukrainischen Administrationen haben bisher durchweg ihre Machtposition missbraucht, um für persönliche Vorteile Geld aus dem Land zu ziehen. Jede Regimewechsel wurde von großen Säuberungen bis hinunter auf die Ebene der Krankenhäuser und Mittelschulen begleitet. In einem Fall führte dies zu einem Punkt, an dem sich ein ganzes Dorf gegen seine korrupte Polizei erhob. Auch der Vorwurf der Existenz rechtsradikaler Kräfte in der Ukraine ist nicht aus der Luft gegriffen.
Für die Ukraine standen und stehen derzeit zwei große Gefahren vor der Tür: ein möglicher lang währender Bürgerkrieg; eine wirtschaftliche und humanitäre Katastrophe. Beide Gefahren gehen über die Ukraine hinaus auch zu Lasten von Sicherheit und Prosperität in Russland und der Europäischen Union. Auch globale Auswirkungen sind zu befürchten. Denn der Westen verliert Russland als durchaus gewichtigen Partner im gemeinsamen Krisenmanagement bei regionalen und globalen Herausforderungen. In den meisten großen Krisen der letzten Jahrzehnte hat der Westen von der Kooperation Russlands profitiert.
Welche Rolle will Amerika künftig spielen? Der Ölmarkt hat sich aufgrund der Frackingtechnologien innerhalb kurzer Zeit so dramatisch geändert, daß es die bisherigen Interessenskonstellationen nicht mehr gibt. Die Vereinigten Staaten sind selbst ölexportierendes Land geworden und nicht mehr auf das Öl aus dem Mittleren Osten angewiesen, könnten also das Interesse verlieren, mit Milliarden Dollar ihre Militärpräsenz im Persischen Golf aufrechtzuerhalten und die freie Fahrt für Öltanker zu garantieren – zumal es wieder eine vorsichtige Annäherung an Teheran zu geben scheint. Wie wird sich diese Lage weiter entwickeln?
Ralph Thiele: Lange Zeit haben die USA zwei Flugzeugträgerflotten für die Region eingesetzt. Diese Zeiten sind vorbei. Freie Fahrt für Öltanker im Persischen Golf bedeutet heute freie Fahrt für chinesische und europäische Ölversorgung. Warum sollten die USA für diese Nutznießer ihren immens hohen Aufwand in der Region fortsetzen wollen? Die Region bleibt als Krisenherd. Und sie behält ihre bedeutende geostrategische Lage als energiepolitische Schlüsselregion mit störanfälligen See- und Pipelineverbindungswegen.
Die USA verstehen sich weiter als eine Weltmacht mit globaler Verantwortung. Allerdings hat die U.S.-Verschuldung inzwischen eine Dimension erreicht, welche die Handlungsfähigkeit der USA – nicht zuletzt durch strategische Abhängigkeit von ausländischen Gläubigern wie China – beeinträchtigt. Der angeschlagene Hegemon will die sich verändernde Weltordnung dominant gestalten, hat aber noch keine klare Vision davon, wie diese aussehen könnte. Sicher ist lediglich, dass darin Asien eine größere und Europa eine kleinere Rolle spielt als bisher.
Die strategische Neuausrichtung der USA mit asiatisch-pazifischem Fokus ist von daher konsequent. Die bestehenden Allianzen im Nordatlantik und Mittleren Osten sollen weiter gepflegt werden. Dennoch: Amerikas Zukunft liegt im Pazifik, hinsichtlich seiner nationalen Sicherheit, vor allem aber auch hinsichtlich seiner Prosperität. Und das Budget reicht nicht, um sich allen gleichermaßen zuzuwenden.
Asiatische Länder stehen heute an der Spitze des Fortschritts weltweiter Innovationen und Trends und sind eine dynamisch wachsende Kraft in der Weltwirtschaft. Hier lebt fast die Hälfte der Weltbevölkerung. Hier befinden sich außerordentlich wichtige Schwungräder der Weltwirtschaft. Hier sind aufstrebende Mächte wie China, Indien und Indonesien beheimatet.
Überdehnt und unterfinanziert für die anstehenden globalen Herausforderungen bedeutet der pazifische Fokus der USA in der Konsequenz ein schleichendes Disengagement in Europa und im Mittleren Osten. Die Frackingtechnologien beschleunigen diesen Prozess. Sie machen die USA zum Ölexporteur. Die derzeitigen niedrigen Ölpreise verlangsamen diese Entwicklung allerdings, denn die diesbezüglichen Industrien sind überwiegend kreditfinanziert und brauchen einen hohen Ölpreis.
Wie beurteilen Sie die internationale Handlungsfähigkeit Deutschlands, dessen direkte Kontakte zu den Vereinigten Staaten und vor allem nach Russland? Sie scheint es nicht mehr so wie früher zu geben. Einige vergleichen die Situation derzeit gar mit der unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg: Keiner will einen Krieg, doch relativ plötzlich ist eine relativ gefährliche Situation entstanden. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ralph Thiele: Die Balten haben Grund zur Sorge. Wir Deutschen auch. Auch hier gibt es russische Minderheiten – und in Konsequenz der Sanktionen demnächst noch mehr. Wenn die Eskalationsspirale Schwung aufnimmt – warum sollte sie an den baltischen Grenzen stoppen?
Die Krise um die Unabhängigkeit der Ukraine traf die meisten westlichen Beobachter völlig unerwartet. Plötzlich ist die Rivalität zwischen Ost und West wieder da. Die wesentlichen Fortschritte zwischen Ost und West seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Bezug auf Frieden und Freiheit, Sicherheit und Prosperität sind plötzlich wieder in Gefahr.
Und es könnte noch schlimmer kommen. Die alten Mechanismen vertraulicher Kommunikation in Krisen gibt es nicht mehr – übrigens sind auch diesbezügliche Mechanismen mit den westlichen Partnern notleidend. In Richtung England hat sich eine (zu) stille Partnerschaft ausgeprägt. Der enge Schulterschluss mit Frankreich ist heute eher eine rhetorische Floskel.
Die bewährte enge Bindung an die USA wurde so lange für selbstverständlich gehalten, bis man sich nur noch auf Konferenzen begegnet. Welche deutschen Politiker und Parlamentarier von Rang reisen regelmäßig in die USA und finden dort Gehör und vice versa?
Die Münchner Sicherheitskonferenz ist da die einzig verbliebene Ausnahme. Nach dem Dreiklang im vergangenen Jahr von Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen "Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen", steht in den nächsten Tagen auf der diesjährigen Konferenz vom 6. - 8. Februar die Kanzlerin in einer besonderen Verantwortung. Mit ihr werden auch US-Vizepräsident Joe Biden und der russische Außenminister Sergej Lawrow zu hören sein. Und der Kenner weiß: Noch wichtiger als die öffentliche Rede werden die Gespräche in den Fluren und Besprechungszimmern des Bayerischen Hofes in München sein.
Hoffentlich wird es dabei gelingen, die USA von einer weiteren Eskalation der Krise durch eine signifikante Aufrüstung der Ukraine abzuhalten. Ein solches Gefecht kann der Westen nicht gewinnen. Das ist ein sehr gefährliches und zugleich kontraproduktives Spiel mit dem Feuer.
Deeskalation ist das Gebot der Stunde. Die Wiedergewinnung von Vertrauen die Voraussetzung für Erfolg. Von größter Bedeutung wird es sein, gegenseitiges Vertrauen wieder herzustellen. Dies ist der Kern einer besseren künftigen Entwicklung. Dabei spielt auch Vertrauen in die Wirksamkeit rechtstaatlicher Prinzipien als ein Schlüsselelement der entstehenden neuen Weltordnung eine fundamentale Rolle, in der auch der Westen seine Performance verbessern kann und muss. Natürlich ist Rußland kein demokratisches Land, aber die realistische Einschätzung der Möglichkeiten gebietet, klüger mit der Situation umzugehen.
Bewährte multilaterale Instrumente der Vertrauensbildung wie die OSZE und der NATO-Russland-Rat sollten für die friedliche Beilegung der Ukraine-Krise genutzt werden. Operative Herausforderungen wie Entflechtung, Überwachung einer Waffenruhe, Grenzüberwachung können aller Erfahrung nach nur gelöst werden, wenn es gelingt, einen allgemein akzeptierten multilateralen Verhandlungsrahmen zu schaffen.
Der bedeutende Historiker Herfried Münkler nannte kürzlich den Ersten Weltkrieg ein "Kompendium falscher Entscheidungen". Wir müssen sehr aufpassen, dass wir nicht ein weiteres Musterbeispiel für eine Serie falscher Entscheidungen liefern, die dann in einer Katastrophe münden. Noch ist es nicht zu spät. Insbesondere die deutsche Bundeskanzlerin und der deutsche Außenminister haben das Format, die Dinge zum Besseren zu wenden. Übrigens könnte auch ein deutscher Alt-Kanzler wichtige Beiträge leisten.
Was haben die Sanktionen der westlichen Länder bisher in Russland bewirkt? Die Oligarchen sind empfindlich getroffen, aber haben sie auch die Macht, sich zu wehren? Und bemerkt das arme Volk überhaupt etwas von den Sanktionen?
Ralph Thiele: Die Sanktionen treffen Russland und die russische Wirtschaft hart. Dienstleistungs- und Warenströme müssen neue Wege und Märkte suchen. Die Oligarchen müssen Milliardenverluste verkraften. Vor allem die Banken leiden unter der Rubelkrise – viele wackeln bereits. Demnächst stehen Konkurse an. Die Folgen werden in Kürze auch die Menschen treffen. Bald wird dem Kreml nichts anderes übrig bleiben, als Steuern anzuheben, um die Krise abzufedern. Preise werden steigen. Dies wird die sozialen Spannungen in Russland verschärfen. Der bröckelnde Tourismus signalisiert die neue Lage. Viel weniger russische Bürger als bisher konnten sich 2014 in Auslandsurlauben ein persönliches Bild von den freiheitlich westlichen Demokratien machen. Dort kann man sich langsam auf eine Zuwanderungswelle junger, gut gebildeter Russen vorbereiten.
Was, vermuten Sie, treibt Putin an? Häufig verdecken Politiker mit außenpolitischen Kraftmeiereien innen– und wirtschaftspolitische Schwierigkeiten. Denken Sie, daß es hier auch so ist?
Ralph Thiele: Eher nicht. Vor der Ukrainekrise war Russland auf Wertschöpfungs- und Diversifizierungskurs. Man wollte mit erheblichen Investitionen und in enger Zusammenarbeit mit westlichen Partnern die eigene schwache wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auf ein belastbareres Fundament stellen. Dabei war Russland ein eigenwilliger, schwieriger, bedeutungshungriger, aber zugleich zunehmend kooperativer Partner des Westens.
Außen- und sicherheitspolitisch sah Russland in den vergangenen zwei Jahrzehnten seine strategischen Risiken vor allem im Süden und nicht im Westen. Im Zuge der ukrainischen Krise hat sich diese Wahrnehmung radikal verändert. Strategische Bedrohung aus dem Westen erscheint Russland wieder möglich. Im Grunde unterstellt man den USA ‚Regime-Change' Absichten mit zumindest fahrlässiger Beihilfe der Europäischen Union. Das ist auch die Hauptquelle des Vertrauensverlustes.
Putin beobachtet schon seit Jahren misstrauisch eine zunehmend ungenierte westliche Attitüde, unter dem Deckmantel von Menschenrechten das Recht des Stärkeren zu Lasten der Stärke des Rechts den Vorzug zu geben. Beispiele hierfür sind aus seiner Sicht der Kosovo und die Anerkennung dessen völkerrechtlich umstrittener Unabhängigkeitserklärung, der Einmarsch in den Irak und Afghanistan, die ungenierte Unterstützung des "Arabischen Frühlings", die Drohneneinsätze der USA unter Verletzung fundamentaler Souveränitätsrechte anderer Staaten etc. Auch der Regimewechsel in der Ukraine wurde aus russischer Sicht massiv vom Westen unterstützt und hat ein fragiles Gleichgewicht innerhalb des Staates zerstört mit massiven negativen Folgen. Für Putin war es der entscheidende Schritt über die rote Linie.
Als Janukowitsch im Februar 2014 vor dem Druck einer aufgeputschten Bevölkerung nach Russland floh, entstand eine neue Regierung in Kiew, die im Kern pro-westlich und anti-russisch war. Auch wenn das volle Ausmaß der US-Beteiligung an diesen Vorgängen noch unklar ist, steht wohl fest: Washington hat den Putsch unterstützt. Es gab und gibt erhebliches U.S.- Engagement zur Förderung von Demokratie und westlichen Werten in der Ukraine – darunter Geld für Demonstranten, private Sicherheitskräfte in Kiew, erhebliche NGO-Finanzierung zur Förderung der Westbindung der Ukraine bis hin zu intensivem geheimdienstlichen Engagement.
Vor diesem Hintergrund hat sich für Putin das bisherige Modell der Beziehungen Russlands zum Westen erschöpft, das sich seit Gorbatschow von dem Grundsatz leiten ließ, dass ein konstruktives Verhältnis zum Westen – trotz aller Differenzen in Teilfragen – ein Wert an sich und unentbehrlich für Russlands Sicherheit ist.
Angesichts der Bedeutung der Krim für die russische Nahrungsmittelversorgung, der politisch-strategischen Bedeutung der Ukraine für die Wirtschaft und - mehr noch - die nationale Sicherheit Russlands entwickelte sich die Krise zu einer Art Showdown, den Russland glaubt, gewinnen zu können. Für Putin ist jetzt Zeit der Abrechnung für das, was Russland aus seiner Sicht als ein Vierteljahrhundert der Respektlosigkeit, der Demütigung und des diplomatischen Mobbings wahrgenommen hat.
Wie stark ist Putin wirklich?
Ralph Thiele: Russische Langstreckenbomber an den Grenzen des NATO-Luftraums verursachen Alarmstarts von NATO-Abfangjägern. Russische U-Boote in NATO-Gewässern lösen aufwändige Suchoperationen aus. Die NATO erfährt in der Ukraine-Krise, dass sie ihre Souveränität im Luftraum, im Seeraum oder auch im Cyberraum nicht effektiv schützen kann.
Als Reaktion auf die geplante ballistische Raketenabwehr der NATO entlang Russlands Grenze werden 50 Nuklearraketen in den Dienst gestellt, die diesen Schirm durchbrechen werden können.
Noch bis 2020 läuft ein 300 Mrd. US$ Modernisierungsprogramm der russischen Streitkräfte, während die Schwindsucht der militärischen Fähigkeiten des transatlantischen Bündnisses anhält. Auch die USA fahren ihre Militärausgaben, wenngleich auf hohem Niveau, um knapp ein Viertel zurück – und relevante europäische militärische Fähigkeiten sind weiterhin nicht in Sicht.
Putin will ernst genommen werden. Deshalb wird er die russischen Streitkräfte trotz der sich verschärfenden Wirtschaftskrise wie geplant modernisieren. Der Spott von US-Präsident Barack Obama über Russland als Regionalmacht hat ihn verletzt. Amerikanische und NATO-Manöver auf ukrainischem Boden und in ukrainischen Häfen besorgen und provozieren ihn – übrigens unter Beteiligung der Bundeswehr im September des vergangenen Jahres. Vom 11. bis zum 28. September 2014 veranstaltete die NATO beispielsweise unter Leitung des US European Command das Manöver »Rapid Trident 14« auf einem Truppenübungsplatz im Westen der Ukraine. Bei der kombinierten Land- und Luftwaffenübung waren etwa 1300 Soldaten aus 16 Nationen, darunter auch drei Soldaten der Bundeswehr beteiligt.
Das »Center of Gravity« des Systems Putin ist der Energieexport. Russland kann sich materiell allein auf Rohstoff- und Energieexport stützen. Putin braucht die Rohstofferlöse zur Unterstützung wichtiger Machteliten. Darüber hinaus ist die wirtschaftliche Basis für Putins Ansatz schwach. Unterm Strich vergrößert die Leidensfähigkeit des russischen Volkes Putins zeitlichen Spielraum; dauerhaft niedrige Ölpreise verringern ihn dagegen.
Innenpolitisch konzentriert sich das System auf Nationalismus. Dieser wird durch die erfolgreiche Demonstration militärischer Macht befeuert. Die in den vergangenen Jahren erheblich verbesserte Leistungsfähigkeit der Streitkräfte gestattet Säbelrasseln unterhalb der Schwelle des Krieges und unterlegt Putins Strategie nach innen. Er hat für diesen Kurs eine hohe Zustimmung in der eigenen Bevölkerung. Er provoziert und setzt nach, wo der Westen zurückweicht.
Da der Westen an seinen Zielsetzungen bezüglich der Ukraine festhält, hat sich Russland zu einer – für alle Beteiligten - kostspieligen Beschäftigungstherapie entschlossen. Man hält die Ukraine in einem dauernden Schwebezustand zwischen Krieg und Frieden, damit das Land keine Kraft hat, das Assoziierungsprogramm mit der EU umzusetzen und einen demokratischen Rechtsstaat aufzubauen. Dann kann er verkünden, dass das Assoziierungsprogramm gescheitert ist und damit das europäische Modell. Für Moldowa und Georgien, die ebenfalls den Weg der EU-Assoziierung gehen wollen, ist das eine handfeste Warnung: Sie müssen ggf. mit Krieg in ihren Ländern rechnen. Putin geht davon aus, dass der Westen wegen der Ukraine keine massive Konfrontation mit Russland wagen wird.
Offenkundig ist: Es ist jegliches Vertrauen zwischen beiden Seiten verspielt worden. Es scheint noch nicht mal mehr einen inoffiziellen, direkten Draht zu geben. Wie konnte es so weit kommen?
Ralph Thiele: Der Vertrauensverlust hat einen langen Vorlauf mit drei Schlüsselerfahrungen auf russischer Seite: Für Russland liegt die Wurzel des Übels in der NATO-Erweiterung. Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich die russische Führung strikt gegen die NATO-Erweiterung ausgesprochen. Insbesondere in den letzten Jahren hat Russland deutlich gemacht, dass es nicht einfach zusieht, wenn seine strategisch wichtigen Nachbarn in eine westliche Bastion umgestaltet werden sollen. Als auf dem NATO-Gipfel 2008 in Bukarest erstmals der mögliche Beitritt von Georgien und der Ukraine thematisiert wurde, unterstützte George W. Bush deren Beitrittswunsch, während Frankreich und Deutschland besorgt waren, damit Russland nachhaltig zu verärgern.
Die NATO-Staaten einigten sich damals auf einen Kompromiss: Die Allianz begann nicht den formalen Prozess, der zur Mitgliedschaft führt, aber begrüßten in einer Erklärung die Bestrebungen Georgiens und der Ukraine. Alexander Grushko, der damalige stellvertretende Außenminister Russlands, kommentierte lakonisch, »dass die Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine in der Allianz ein großer strategischer Fehler wäre, mit schwersten Folgen für die gesamteuropäische Sicherheit.«
Das Engagement des Westens führte wiederholt zu blutigen Bürgerkriegen. Aus russischer Sicht gab es hier eine Serie von Völkerrechtsverletzungen seitens des Westens begleitet von einer indirekten Begleitung der aktiv angestrebten, gewaltsamen Regierungswechsel durch sogenanntes »Social Engineering« – die Einbindung von NGOs zur Förderung unzufriedener sozialer Gruppen. Genau diese "modernen Formen der Aggression gegen Russland" wirft Moskau derzeit dem Westen vor.
Entscheidung der NATO, ein System ballistischer Raketenabwehr in Osteuropa zu stationieren. Russland hat dem Westen nie das Argument abgenommen, das System sei nicht gegen Russland gerichtet, sondern eine Reaktion auf die Bestrebungen des Irans, Atommacht zu werden. Für Russland war diese Entscheidung ein eindeutig feindseliger Akt gegen das russische strategische Dispositiv.
Im Grunde hat der Westen Schritt für Schritt Sensitivität, Fachwissen und auch Respekt gegenüber Russland und dessen strategischen Interessen verloren. Früher gab es beispielsweise Heerscharen von sogenannten "Sowjetologen", die sich mit allen denkbaren Aspekten russischer Planungen, Fähigkeiten und Befindlichkeiten im Detail auskannten. Mit dem Fall der Mauer konnten sie sich neue Jobs suchen. Heute fehlt deren Expertise.
Die gegenwärtige Absenz von Vertrauen reflektiert schlechte Erfahrungen miteinander. Die Absenz von direkten Drähten – wie beispielsweise Egon Bahr für lange Jahrzehnte als Mittelsmann der SPD für kritische Ost-West-Themen – offenbart Ignoranz, fehlendes Urteilsvermögen und mangelnden Respekt.
Hier brauchen wir dringend wieder die Fähigkeit, wie es Hans-Dietrich Genscher kürzlich so treffend formulierte, sich in die "Schuhe des anderen" zu stellen.
Vor allem in den baltischen Ländern blickt man mit größer werdender Furcht auf Russland. Dort ist die Erinnerung an die Zeiten des Ostblocks noch hellwach. Und immerhin hat die russische Armee direkt vor ihrer Haustür ihren neuen hybriden Krieg geübt. Russische Atombomber fliegen bis an die Grenzen zum Westen, teilweise offenbar darüber hinaus. Verstehen Sie die Sorgen der Balten? Sehen Sie eine Kriegsgefahr?
Ralph Thiele: Strategie zielt auf die Durchsetzung eigener Ziele und Zwecke auch gegen Widerstände. Diesen Weg geht Russland ganz offensichtlich mit Blick auf die Ukraine. Russland hat bisher die Initiative, täuscht und droht und zwingt den Westen zur Reaktion. Die Welt erlebt, wie dosierte und verdeckte militärische Aggression von Diplomatie, Informationskriegsführung, Propaganda, humanitären Aktionen, Cyberwar, Geheimdienstoperationen, Wirtschaftsinitiativen und innenpolitischen Repressionen abgeschirmt und begleitet wird.
Der damals frisch bestellte russische Generalstabschef Walerij Gerassimow hat Ende Januar 2013 in seiner Rede vor der Jahresversammlung der Russischen Akademie für Militärwissenschaft seine Vorstellungen moderner russischer Operationen öffentlich beschrieben. Er erläuterte, daß sich die Grenzen zwischen Krieg und Frieden auflösen. Kriege würden nicht mehr erklärt, und sie verliefen nach einem »ungewohnten Muster«.
Ein prosperierender Staat könne - als Opfer einer ausländischen Intervention - in kurzer Zeit in einen Schauplatz erbitterter bewaffneter Auseinandersetzungen verwandelt werden mit Ausprägungen wie Chaos, humanitären Notlagen und Bürgerkrieg inklusive. Grundlage seiner Überlegungen war eine sorgfältige Analyse der »Farbenrevolutionen« in Nordafrika und im Nahen Osten. Er forderte seine Zuhörer auf, von Siegern (er meinte die westlichen Staaten) das Siegen zu lernen.
Politische Ziele seien nicht mehr in erster Linie mit konventioneller Feuerkraft zu erreichen, sondern durch den - so Gerassimow wörtlich - "breit gestreuten Einsatz von Desinformationen, von politischen, ökonomischen, humanitären und anderen nichtmilitärischen Maßnahmen, die in Verbindung mit dem Protestpotential der Bevölkerung zum Einsatz kommen".
Der russische Begriff dafür ist "nichtlineare Kriegsführung". Militärische Maßnahmen seien zwar erforderlich, sagte der Generalstabschef weiter, aber sie müssten einen "verdeckten Charakter" haben: Dazu gehörten Angriffe auf Informationssysteme und der Einsatz von Spezialtruppen. "Der offene Einsatz von Truppen – oftmals unter dem Deckmantel von Friedenserhaltung und Krisenbewältigung – kommt erst zu einem späten Zeitpunkt in Betracht, vor allem, um in einem Konflikt endgültig zu gewinnen", so Gerassimow. Entscheidend dafür seien "Geschwindigkeit, schnelle Bewegungen, der kluge Einsatz von Fallschirmjägern und das Einkreisen feindlicher Kräfte".
Das von ihm umrissene Einsatzkonzept wurde von den russischen Streitkräften im September 2013 tatsächlich geübt. Die Übung ZAPAD in Kaliningrad sowie an der russischen Westgrenze zum Baltikum und in Weißrussland diente als praktische Vorbereitung. Offiziell wurde die gemeinsame Verteidigung russischer und weißrussischer Einheiten gegen einen Angriff »illegaler bewaffneter Gruppen« auf Weißrussland geübt.
Tatsächlich war es eine Art Generalprobe für den späteren Einsatz auf der Krim und im Osten der Ukraine. Zum Teil handelte es sich sogar um dieselben Bataillone. Offiziell wurden von beiden Staaten nur 12.900 Soldaten für die Übung angemeldet, da dies unterhalb der Schwelle liegt, jenseits der westliche Beobachter hätten zugelassen werden müssen. Nach Schätzung der NATO waren tatsächlich jedoch rund 70.000 Soldaten eingebunden.
Die Übung hatte übrigens eine zweite beunruhigende Botschaft: Der Gegenschlag der Verteidiger zielte auf die Eroberung des gesamten Baltikums. Die Balten haben also tatsächlich Grund zur Sorge.
Der "graue Eminenz der amerikanischen Außenpolitik", Zbigniew Brzeziński, kommt in seinem Buch "Das große Schachbrett" von 1997 zu dem Schluß, daß das erste Ziel amerikanischer Außenpolitik darin bestehen muß, »daß kein Staat oder keine Gruppe von Staaten die Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder auch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen«. Es gelte, »die Gefahr eines plötzlichen Aufstiegs einer neuen Macht erfolgreich« hinauszuschieben. Die USA verfolgen das Ziel, »die beherrschende Stellung Amerikas für noch mindestens eine Generation und vorzugsweise länger zu bewahren«. Sie müssen »das Emporkommen eines Rivalen um die Macht (...) vereiteln«. Wie schätzen Sie seine Ansicht ein?
Ralph Thiele: Brzezińskis Ansatz ist bis heute zutreffend. Allerdings haben weder der U.S. Präsident noch die anderen westlichen Staats- und Regierungschefs das Schachbrett im Griff. Nicht zuletzt deshalb gerät die »Welt aus den Fugen«, wie es Außenminister Frank-Walter Steinmeier konstatiert hat.
Die USA spielen auf dem »Großen Schachbrett« – machtvoll und zuweilen unkoordiniert mit einer Präferenz für die militärische und wirtschaftliche Ebene.
Die europäischen Demokratien spielen überwiegend auf dem wirtschaftlichen Brett und verpassen dabei allerdings wesentliche Anteile des Spiels auf den anderen Brettern.
Diktatorische Regime wie China und Russland, sicherlich auch Nordkorea oder der Iran, nutzen sehr koordiniert – glücklicherweise noch nicht sehr wirkungsvoll – die gesamte Palette ihrer Möglichkeiten auf den verfügbaren Brettern.
In der »öffentlichen« amerikanischen Gesellschaft gibt es einen immer größeren Unwillen, Weltpolizist zu spielen. Stimmen heute noch Brzezińskis Einschätzungen?
Was die USA wollen, sagt der U.S. Präsident alljährlich in seiner "State of the Union Address", die letzte übrigens erst vor ein paar Tagen: »Meine vornehmste Pflicht als Oberkommandierender der amerikanischen Streitkräfte ist es, die Vereinigten Staaten von Amerika zu verteidigen. In diesem Zusammenhang lautet Frage nicht, ob Amerika die Welt führt, sondern wie. ... Wir führen am Besten, wenn wir militärische Macht mit starker Diplomatie kombinieren, wenn wir unseren Einfluss und unsere Macht mit Bündnissen stärken, wenn wir uns nicht von Ängsten leiten lassen, sondern vielmehr von den Möglichkeiten, die uns das neue Jahrhundert bietet. Und genau das machen wir derzeit.«
Die USA verstehen sich als globale Macht, verpflichtet auf ihre Interessen sowie ihrer Führungsrolle in der westlichen Welt und darüber hinaus. Die US-Administration unter Präsident Obama setzt – wo immer möglich - auf die Stärken multilateraler Diplomatie und das Engagement in internationalen Organisationen, behält sich aber das Recht vor, ggfs. allein zu handeln.
Dementsprechend pflegen und entwickeln die USA ihre Partnerschaften zu Freunden und Verbündeten. Sie führen Bündnisse in der ganzen Welt. Diese sind konstitutives Merkmal für die Fähigkeit der USA, weltweit wirksam zu agieren und globale Herausforderungen nachhaltig zu bewältigen, denn sie begegnen den Krisenherden in der Welt nicht nur mit eigenen Fähigkeiten, sondern darüber hinaus mit dem gesamten verfügbaren Instrumentarium aus partnerschaftlicher Kooperation.
Hauptträger der U.S.-Sicherheitspolitik sind deren Streitkräfte. Sie dienen sowohl der Abschreckung wie auch der Machtprojektion und Krisenintervention. Die USA verfügen über ein weltumspannendes Netz an Militärbasen in über 20 Ländern. Sie unterhalten darüber hinaus militärische Einrichtungen in über 130 Ländern sowie ein weltweites, dynamisch wachsendes Netz von militärischen Aufklärungseinrichtungen - vom Meeresboden bis in den Welt- und Cyberraum.
Derzeit belasten erhebliche Bürden die Performance der U.S. Außen- und Sicherheitspolitik - der problematische Nachlass der militärischen Interventionen im Irak und in Afghanistan sowie Konsequenzen der Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise.
Ist denn die Ukraine noch der Schlüsselstaat, so wie Brzeziński ihn beschreibt? Immerhin ist das Land kaputt, die Produktionsanlagen weitgehend Schrott und die Landwirtschaft in diesem Jahr wohl kaum noch in der Lage, zum Beispiel Getreide zu exportieren und damit Devisen einzunehmen. Ein übriges tun die Kampfhandlungen im Osten.
Ralph Thiele: Die Ukraine ist ein Schlüsselstaat für die russische Sicherheit und Prosperität, weniger für die Sicherheit und Prosperität des Westens. Sie ist das einzige postsowjetische Land, das den Lebensstandard der Sowjetzeit nicht erreicht hat. Es ist zu einem der ärmsten europäischen Länder geworden. 20 Jahre erfolgloser Transformation haben in der Ukraine tiefe Spurrillen und Gegensätze hinterlassen.
In der Ukraine sind die bisherigen Regierungsmodelle gescheitert. Mit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1991 erlangte die Ukraine ein schweres Erbe - Regionen mit völlig unterschiedlicher Geschichte, mit einer Fülle ungelöster ethnischer und religiöser, sozialer und wirtschaftlicher Konflikte.
Halbherzige Reformen und weitverbreitete Korruption haben zu einem dysfunktionalen System geführt. Die ukrainischen Administrationen haben bisher durchweg ihre Machtposition missbraucht, um für persönliche Vorteile Geld aus dem Land zu ziehen. Jede Regimewechsel wurde von großen Säuberungen bis hinunter auf die Ebene der Krankenhäuser und Mittelschulen begleitet. In einem Fall führte dies zu einem Punkt, an dem sich ein ganzes Dorf gegen seine korrupte Polizei erhob. Auch der Vorwurf der Existenz rechtsradikaler Kräfte in der Ukraine ist nicht aus der Luft gegriffen.
Für die Ukraine standen und stehen derzeit zwei große Gefahren vor der Tür: ein möglicher lang währender Bürgerkrieg; eine wirtschaftliche und humanitäre Katastrophe. Beide Gefahren gehen über die Ukraine hinaus auch zu Lasten von Sicherheit und Prosperität in Russland und der Europäischen Union. Auch globale Auswirkungen sind zu befürchten. Denn der Westen verliert Russland als durchaus gewichtigen Partner im gemeinsamen Krisenmanagement bei regionalen und globalen Herausforderungen. In den meisten großen Krisen der letzten Jahrzehnte hat der Westen von der Kooperation Russlands profitiert.
Welche Rolle will Amerika künftig spielen? Der Ölmarkt hat sich aufgrund der Frackingtechnologien innerhalb kurzer Zeit so dramatisch geändert, daß es die bisherigen Interessenskonstellationen nicht mehr gibt. Die Vereinigten Staaten sind selbst ölexportierendes Land geworden und nicht mehr auf das Öl aus dem Mittleren Osten angewiesen, könnten also das Interesse verlieren, mit Milliarden Dollar ihre Militärpräsenz im Persischen Golf aufrechtzuerhalten und die freie Fahrt für Öltanker zu garantieren – zumal es wieder eine vorsichtige Annäherung an Teheran zu geben scheint. Wie wird sich diese Lage weiter entwickeln?
Ralph Thiele: Lange Zeit haben die USA zwei Flugzeugträgerflotten für die Region eingesetzt. Diese Zeiten sind vorbei. Freie Fahrt für Öltanker im Persischen Golf bedeutet heute freie Fahrt für chinesische und europäische Ölversorgung. Warum sollten die USA für diese Nutznießer ihren immens hohen Aufwand in der Region fortsetzen wollen? Die Region bleibt als Krisenherd. Und sie behält ihre bedeutende geostrategische Lage als energiepolitische Schlüsselregion mit störanfälligen See- und Pipelineverbindungswegen.
Die USA verstehen sich weiter als eine Weltmacht mit globaler Verantwortung. Allerdings hat die U.S.-Verschuldung inzwischen eine Dimension erreicht, welche die Handlungsfähigkeit der USA – nicht zuletzt durch strategische Abhängigkeit von ausländischen Gläubigern wie China – beeinträchtigt. Der angeschlagene Hegemon will die sich verändernde Weltordnung dominant gestalten, hat aber noch keine klare Vision davon, wie diese aussehen könnte. Sicher ist lediglich, dass darin Asien eine größere und Europa eine kleinere Rolle spielt als bisher.
Die strategische Neuausrichtung der USA mit asiatisch-pazifischem Fokus ist von daher konsequent. Die bestehenden Allianzen im Nordatlantik und Mittleren Osten sollen weiter gepflegt werden. Dennoch: Amerikas Zukunft liegt im Pazifik, hinsichtlich seiner nationalen Sicherheit, vor allem aber auch hinsichtlich seiner Prosperität. Und das Budget reicht nicht, um sich allen gleichermaßen zuzuwenden.
Asiatische Länder stehen heute an der Spitze des Fortschritts weltweiter Innovationen und Trends und sind eine dynamisch wachsende Kraft in der Weltwirtschaft. Hier lebt fast die Hälfte der Weltbevölkerung. Hier befinden sich außerordentlich wichtige Schwungräder der Weltwirtschaft. Hier sind aufstrebende Mächte wie China, Indien und Indonesien beheimatet.
Überdehnt und unterfinanziert für die anstehenden globalen Herausforderungen bedeutet der pazifische Fokus der USA in der Konsequenz ein schleichendes Disengagement in Europa und im Mittleren Osten. Die Frackingtechnologien beschleunigen diesen Prozess. Sie machen die USA zum Ölexporteur. Die derzeitigen niedrigen Ölpreise verlangsamen diese Entwicklung allerdings, denn die diesbezüglichen Industrien sind überwiegend kreditfinanziert und brauchen einen hohen Ölpreis.
Wie beurteilen Sie die internationale Handlungsfähigkeit Deutschlands, dessen direkte Kontakte zu den Vereinigten Staaten und vor allem nach Russland? Sie scheint es nicht mehr so wie früher zu geben. Einige vergleichen die Situation derzeit gar mit der unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg: Keiner will einen Krieg, doch relativ plötzlich ist eine relativ gefährliche Situation entstanden. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ralph Thiele: Die Balten haben Grund zur Sorge. Wir Deutschen auch. Auch hier gibt es russische Minderheiten – und in Konsequenz der Sanktionen demnächst noch mehr. Wenn die Eskalationsspirale Schwung aufnimmt – warum sollte sie an den baltischen Grenzen stoppen?
Die Krise um die Unabhängigkeit der Ukraine traf die meisten westlichen Beobachter völlig unerwartet. Plötzlich ist die Rivalität zwischen Ost und West wieder da. Die wesentlichen Fortschritte zwischen Ost und West seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Bezug auf Frieden und Freiheit, Sicherheit und Prosperität sind plötzlich wieder in Gefahr.
Und es könnte noch schlimmer kommen. Die alten Mechanismen vertraulicher Kommunikation in Krisen gibt es nicht mehr – übrigens sind auch diesbezügliche Mechanismen mit den westlichen Partnern notleidend. In Richtung England hat sich eine (zu) stille Partnerschaft ausgeprägt. Der enge Schulterschluss mit Frankreich ist heute eher eine rhetorische Floskel.
Die bewährte enge Bindung an die USA wurde so lange für selbstverständlich gehalten, bis man sich nur noch auf Konferenzen begegnet. Welche deutschen Politiker und Parlamentarier von Rang reisen regelmäßig in die USA und finden dort Gehör und vice versa?
Die Münchner Sicherheitskonferenz ist da die einzig verbliebene Ausnahme. Nach dem Dreiklang im vergangenen Jahr von Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen "Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen", steht in den nächsten Tagen auf der diesjährigen Konferenz vom 6. - 8. Februar die Kanzlerin in einer besonderen Verantwortung. Mit ihr werden auch US-Vizepräsident Joe Biden und der russische Außenminister Sergej Lawrow zu hören sein. Und der Kenner weiß: Noch wichtiger als die öffentliche Rede werden die Gespräche in den Fluren und Besprechungszimmern des Bayerischen Hofes in München sein.
Hoffentlich wird es dabei gelingen, die USA von einer weiteren Eskalation der Krise durch eine signifikante Aufrüstung der Ukraine abzuhalten. Ein solches Gefecht kann der Westen nicht gewinnen. Das ist ein sehr gefährliches und zugleich kontraproduktives Spiel mit dem Feuer.
Deeskalation ist das Gebot der Stunde. Die Wiedergewinnung von Vertrauen die Voraussetzung für Erfolg. Von größter Bedeutung wird es sein, gegenseitiges Vertrauen wieder herzustellen. Dies ist der Kern einer besseren künftigen Entwicklung. Dabei spielt auch Vertrauen in die Wirksamkeit rechtstaatlicher Prinzipien als ein Schlüsselelement der entstehenden neuen Weltordnung eine fundamentale Rolle, in der auch der Westen seine Performance verbessern kann und muss. Natürlich ist Rußland kein demokratisches Land, aber die realistische Einschätzung der Möglichkeiten gebietet, klüger mit der Situation umzugehen.
Bewährte multilaterale Instrumente der Vertrauensbildung wie die OSZE und der NATO-Russland-Rat sollten für die friedliche Beilegung der Ukraine-Krise genutzt werden. Operative Herausforderungen wie Entflechtung, Überwachung einer Waffenruhe, Grenzüberwachung können aller Erfahrung nach nur gelöst werden, wenn es gelingt, einen allgemein akzeptierten multilateralen Verhandlungsrahmen zu schaffen.
Der bedeutende Historiker Herfried Münkler nannte kürzlich den Ersten Weltkrieg ein "Kompendium falscher Entscheidungen". Wir müssen sehr aufpassen, dass wir nicht ein weiteres Musterbeispiel für eine Serie falscher Entscheidungen liefern, die dann in einer Katastrophe münden. Noch ist es nicht zu spät. Insbesondere die deutsche Bundeskanzlerin und der deutsche Außenminister haben das Format, die Dinge zum Besseren zu wenden. Übrigens könnte auch ein deutscher Alt-Kanzler wichtige Beiträge leisten.
die us&a_werden sehr bald aus dem Nahen Osten verschwinden ; China wird Weltmacht Nr. 1
AntwortenLöschenEin Haufen Unsinn. Textverschwendung, schade um den vielen Platz. Die Ukraine ist nicht entscheidend für das Überleben oder die Stärke Russlands, eher ist es umgekehrt. Der grosse Irrtum der Möchtegernstrategen in Washington D.C. Europa hätte keinen Grund sich vor Russland zu fürchten, auch nicht das Baltikum, wenn beide nicht Kamikaze für den geopolitischen Hasardeur USA spielen würden.
AntwortenLöschenIch halte den Text nicht für unsinnig.
AntwortenLöschenImmerhin redet Thiele auf Basis der Logik und Realität. Man muss nicht jeden Punkt sehen wie er, aber er ist kein Ideologe, er kann zwei und zwei zusammenzählen und in seinem Fokus sind unsere berechtigten Interessen.
Wo findet man das noch in Politik und Medien?
Ich denke doch, dass die Ukraine Einfluss auf Russlands Überleben hat.
Wenn die NATO sich die Ukraine krallt, ist die Krim weg. Dann sind die Russen am Boden zerstört, ihre Identität, das nationale Selbstbewusstsein hinüber.
Den Verlust des Glacis haben die schon Anfang der 80er vorhergesehen und akzeptiert (deshalb ging das 1989 so ruhig über die Bühne). Der Verlust der Kolonien war schon ein härterer Schlag, aber das ging grad noch so.
Die Krim ist russisches Kernland (hat keinen Sinn zu googeln, seit wann und wie viele), da ist ihr Herzblut drin. Die Krim brauchen die nicht aus wirtschaftlichen oder militärischen Gründen, sondern für die Darstellung des Wirsindwas Die Krim ist die Wärmestube im kalten Haus, Glamour in der Ödnis.
Ohne Krim wäre Russland im eigenen Verständnis nur noch eine größere Mongolei.
Aus und vorbei.
Deshalb, nicht aus rationalen, sondern sentimentalen Gründen, ist die Ukraine für Russland überlebenswichtig.
Auf jeden Fall muss ich meine Aussage ein Stück weit zurücknehmen. Mindestens zu Beginn die Bestandsaufnahme von Thiele war klasse. Bis zu dem Satz "Für Putin ist jetzt Zeit der Abrechnung..." - da gings dann los mit den seltsamen Vermutungen und Schlussfolgerungen.
AntwortenLöschenPutin spielt zum einen keine beleidigte Leberwurst "Putin will ernst genommen werden" und zum anderen verfolgt er die Interessen Russlands, anders wie in den MSM vorgegaukelt, nicht in erster Linie mit militärischen Mitteln. Der Coup auf der Krim hatte Gewaltfreiheit zum Ziel. Oder Beispiel Tschetschenien, seine Leistung, aus einen erbitterten Gegner binnen Jahren einen treuen Verbündeten zu gewinnen ist eine Sensation. Etwas, was die USA seit Deutschland und Japan nicht mehr schafften, Irak, Afghanistan, Lybien usw. lassen grüssen.
Dann Russland als autokratischen Staat hinzustellen, wo dem Nationalismus gefrönt wird im Gegensatz dazu das leuchtende Vorbild der demokratischen EU - hatte schon was von Kabarett.
Und der Gipfel war dann halt die Situation in der Ukraine. Gerade noch sprach Thiele davon, wie der Westen Regimechange vorantrieb um ein paar Sätze weiter dann Russland als denjenigen hinzustellen, der den Krieg in der Ukraine massgeblich am Laufen hält ohne das Interesse zu zeigen, ihn beenden zu wollen. Russland ist kein direkter Beteiligter, im gleichen Sinne wie die NATO. Natürlich haben alle Seiten ihre geheimen Aktionen am Laufen, wenn aber einer dazu berechtigt ist, dann Russland vor der eigenen Haustür und nicht die Amis auf der anderen Seite der Weltkugel. Die aber werden gar nicht erwähnt.
Die vermeintliche Wichtigkeit der Ukraine für Russland könnte man sogar noch weiter formulieren. Kiew (Kiewer Rus) als Geburtsstätte des russischen Volkes, welches heim ins Reich geholt werden muss. Natürlich ist die Krim wichtig für Russland - nur bislang war es okay gewesen, dafür der Ukraine Miete zu zahlen. Russland gehts insgesamt nur um eine einzige Sache, die NATO nicht auf das Gebiet der Ukraine zu lassen, deswegen die Krimheimholung und deswegen die Unterstützung Neurusslands. Aber Neurussland wird nicht annektiert werden, und andere Gebiete der Ukraine auch nicht. Und das wars dann auch schon zum Thema Wichtigkeit der Ukraine für Russland. Die Amis merken mittlerweile ja, wie umsonst dieser gigantische Aufwand bezüglich Ukraine gewesen ist und sind krampfhaft am Überlegen, wie mit heiler Weste da raus kommen.
Und Fracking wird einfach überbewertet. Da haben welche mal nen Hype gestartet. Die USA beziehen auch weiterhin noch ihr Öl aus dem Gebiet des persischen Golfes.
http://www.spiegel.de/fotostrecke/battlestar-galactica-live-rollenspiel-in-wilhelmshaven-fotostrecke-123608-7.html
AntwortenLöschenfinde das 6 Eck
Wir hochkarätigen Geopolitiker werden wohl nicht viel bestellen. Nur dazu
AntwortenLöschen"um ein paar Sätze weiter dann Russland als denjenigen hinzustellen, der den Krieg in der Ukraine massgeblich am Laufen hält ohne das Interesse zu zeigen, ihn beenden zu wollen
noch ein paar Worte.
Thiele hat schon Recht. Putin will nicht tatenlos zusehen, wie die NATO sich die Ukraine krallt. Militärisch eingreifen kann Rußland nicht, deshalb machen die es über die Unterstützung der Prorussen. Die können nicht gewinnen. Aber solange wie die von Moskau unterstützt werden, können die auch nicht verlieren und bereiten so der Ukraine Dauerschmerzen.
Dass diese Taktik realistisch ist, lesen wir heute in der JungeWelt, die Le Figaro zitiert.
"Nach einem Bericht der französischen Zeitung Le Figaro sollen Präsident François Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel Russland politische Zugeständnisse im Tausch für ein Ende des Krieges im Donbass angeboten haben. Wie die konservative Zeitung am Donnerstag berichtete, wollten Hollande und Merkel dem russischen Präsidenten Wladimir Putin anbieten, dass die Ukraine blockfrei und neutral bleibt und im Innern föderalisiert wird. Damit wären wesentliche politische Forderungen Moskaus erfüllt."
"... wollten Hollande und Merkel dem russischen Präsidenten Wladimir Putin anbieten..."
AntwortenLöschenWie wollen die Uschis das garantieren ?
Nur des Verständnisses halber:
AntwortenLöschenwird da nicht Ursache mit Wirkung vertauscht? Die Ukraine hält doch den Krieg am Laufen, wenn Russland seine Unterstüzung entzieht, würde es sehr hässlich werden für die Russen in der Ukraine. So wurde es aber nicht gesagt, nicht mal ansatzweise. Der Spin lief genau andersherum.
Die Forderung nach Blockfreiheit und Förderalisation bestand schon vor dem Krieg, vor dem Maidan und vor Janukowitsch.