Freitag, 13. Juni 2014

Fußball-Koma: Zeit der Entscheidungen

2006 schwitzte ganz Deutschland im Fußballfieber. Die WM im eigenen Land war ein Sommermärchen, schwarz-rot-goldene Fähnchen bestimmen überall das Straßenbild und alles, was nicht passte, wurde beschwiegen. Mit dem Titelgewinn klappt es nicht, aber Helden der Herzen, das waren nicht nur die Spieler, sondern auch ihre Fahnenschwenker.

Unbeobachtet ändert sich im Schatten des Balls die Welt. Als Deutschland Costa Rica mit 4:2 schlägt und auch Polen niederringt, macht der Bundesrat am 16. Juni die Mehrwertsteuererhöhung perfekt. Mit dem folgenden Jahr gelten nicht mehr 16, sondern 19 Prozent Aufschlag auf die meisten Güter – ohne dass ein Aufschrei der Empörung aufgebrandet wäre. Die Leute sind ja mit Fußball beschäftigt.

Schnell nachlegen: Am 29. Juni 2006 beschäftigt das Land in erster Linie die Frage, wie die deutsche Elf am folgenden Tag gegen Argentinien abschneiden werde. Kaum jemand hat da einen Blick für den Bundestag, der mit den Stimmen der großen Koalition und gegen das Votum der FDP, der Grünen und der PDS die Reichensteuer einführt. Während die Euphorie nach dem 5:3-Erfolg der Truppe von Jürgen Klinsmann wenige Tage später mit der Niederlage gegen Italien jäh gebremst wird, nimmt der Staat in Folge dieses Sommermärchen-Kapitels seitdem jährlich rund 650 Millionen Euro zusätzlich ein.

Während das Land beobachtet, wie es beim Weltturnier weitergeht, macht die Politik zielgerichtet weiter. Das umstrittene Meldegesetz passierte den Bundestag, während Deutschland auf einen Sieg gegen Italien hoffte. Ein Vorgehen mit Tradition: Immer, wenn das Land ins Fußball-Koma fällt, ist für die Politik die beste Gelegenheit gekommen, Entscheidungen durchzupeitschen, ohne dass jemand zuschaut. 2010 drückten linke Christdemokraten und rechte Sozialdemokratie die Umsatzsteuer um drei Prozentpunkte rauf, während das Volk auf den Fanmeilen im Fußballtaumel von Titeln träumte.

Zudem ließ der Bundesrat schnell ein Gesetz zur Legalisierung jeder Art von Datensammlung durch das Bundeskriminalamt passieren, wurden die Zwangsgebühren für den Staatsfunk zur Sondersteuer beschlossen und auch noch eine Gesundheitsreform verabschiedet, die in anderen Zeiten Beitragserhöhung genannt worden wäre. Schnell noch das Swift-Abkommen zur Herausgabe aller Bankdaten an ausländische Behörden durchgewunken, Grundgesetz geändert, damit die seit Jahren verfassungswidrig arbeitenden Hartz-IV-Jobcenter bestehen bleiben konnten, die Wehrpflicht schlagartig verkürzt, die Solarstromförderung gesenkt und eine umfassende Datenspurenspeicherfrist für Suchmaschinen initiiert, ein Zwangsrabatt für Arzneimittel eingeführt und ein Gesetz zum Persönlichkeitsschutz von Hausfassaden eingeführt. Fertig, WM vorbei.

Diesmal wird wohl Gelegenheit sein, das in der Bevölkerung ungeliebte Fracking-Gesetz schnell durchzudrücken.

WM der Schnellfans: Meisterschaft im Mummenschanz

7 Kommentare:

  1. Fracking wurde in der Hitliste der Todsünden irgendwo zwischen Atom und Gen einsortiert. Den Leuten wurde weisgemacht, dass durch Fracking Gift und Gas aus den Wasserhähnen kommt. Statt zu letzterem „Halleluja!“ zu rufen und eine Gasheizung anzuschließen und vom gesparten Geld Wasser im Supermarkt und ein neues Auto zu kaufen, suhlen sich die Leute lieber in apokalyptischen Visionen wenn jemand Fracking sagt.

    In diesem Fall möchte ich also dem Bundestag ausnahmsweise „Viel Glück bei der WM-Verarsche!“ wünschen.

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  2. es geht bei der beschreibung der strategie nicht darum, zu sagen, dann ist es mal gut, weil ich es nützlich finde, und dann nicht, weil ich dagegen bin. sondern allein darum, die struktur zu zeigen, nach der gehandelt wird. bei der anti-fracking-kampagne handelt es sich natürlich um die übliche angstkampagne. aber ungeachtet dessen: die wm bildet den schild, hinter dem sie das durchmauscheln können

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  3. es hat schon angefangen; Zitat: "Im Spiel um die Bewertungsreserven gerät der Verbraucherschutz mit 0:4 unter die Räder":
    https://www.bundderversicherten.de/Pressemitteilungen/WM-Auftaktpleite-fuer-den-BdV

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  4. Zum ersten TextLINK:

    http://www.politplatschquatsch.com/2011/12/wulff-wochen-bei-ppq-schweigen-ist-gold.html

    Johannes Rau war MP von NRW, nicht von Niedersachsen.

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  5. Ich wiederhole mich zwar: Ein Kollege hat einmal aus dem Nähkästchen geplaudert, wie sich die hohe Gemahlin des frommen Bruder Johannes im Bimbeswehrkrankenhaus öfters ihre Blessuren löten ließ. -
    Er hätte also nicht Rau, sondern Ollenhauer heißen sollen.

    -Dr.Alopecius-

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  6. Nachtrag, denn andere kommen jetzt auch dahinter, wie üblich ohne Quellenangabe ppq:
    http://www.wiwo.de/politik/deutschland/waehrend-der-wm-diese-gesetze-werden-einfach-durchgedrueckt/10055928.html

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  7. habe ich aus dem augenwinkel gesehen. so ist das mit diesen leitmedien, klauen, wo sie können

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