Montag, 24. Dezember 2012

Doku Deutschland: Stille Nacht '52


Der Mann sagte oft: "Wenn der Krieg zu Ende ist und ich wieder Bücher schreibe..." und die Frau antwortete: "Ja, wenn du wieder Bücher schreiben wirst, wie früher."

An diesem Weihnachtsabend erklangen also die Glocken. Plötzlich hallte das Zimmer von einem schrecklichen Lärm wider. Er kam von weiter her, vom Ostrande der Stadt, wurde von den Mauern zurückgeworfen, prallte gegen das Dach, durchdrang alle Fenster und schwoll herein.

"Die Schlacht hat wieder begonnen", murmelte der Mann. Und die Frau antwortete: "Ja, die Kanonen donnern."

Der Klang der Weihnachtsglocken und das Donnern der Kriegskanonen vereinten sich und kamen zusammen ins Zimmer. Die Eheleute lauschten schweigend. Die Nacht brach herein. Wütende Hunde kläfften, als glaubten sie überall Schatten wahrzunehmen. In diesem Augenblick schlug die Frau die Augen nieder und sagte mit leiser, eintöniger Stimme: "Das Kind hat sich in meinem Leib bewegt."

Der Mann ' sah von seinem kleinen Stück Papier auf und warf einen Blick auf die Uhr. "Es ist Mitternacht. Dann geschehen immer die größten Dinge."

Nach einigen Augenblicken fügte er hinzu: "Wenn es ein Mädchen wird, wollen wir es Myrto nennen? Dieser Name ist zwar alt, er stammt aus der Mythologie, aber er erinnert mich an einen Blumennamen."

"Oh", sagte die Frau, "wie hübsch!"

Die Glocken und der Kanonendonner dröhnten weiter. Der Mann meinte noch: "Wenn der Krieg zu Ende ist, schreibe ich für sie eine schöne Weihnachtsgeschichte."

Schon am ersten Tage ihres Lebens war Myrto sehr hübsch. Jetzt dröhnten die Kanonen nicht mehr. Man sagte, der Friede sei auf die Erde zurückgekommen, und die Frau meinte zu ihrem Mann: "Jetzt kannst du wieder deine Bücher schreiben und auch die schöne Weihnachtsgeschichte für Myrto."

Der Blick des Mannes war nicht fröhlich, sondern voller Sorge und Bitterkeit: "Weißt du, es ist ein merkwürdiger Friede. Er sieht aus wie ein Kind, das den Keim einer Krankheit in sich trägt."

"Und die Geschichte . . .?" .,Ach ja, die Geschichte. Hoffentlich ist sie in diesem Jahr fertig."

Myrto war gerade fünf Jahre alt geworden, als die Polizei eines Nachts an die Tür klopfte: "Alle drei raus, aber schnell!"

Myrto hatte nicht einmal Zeit, ihre Puppe zu holen. "Glaube ja nicht, daß du zum Spielen weggebracht wirst!" schnauzte hinter ihr ein Polizist, der sie hinausstieß. Dann wurden sie getrennt. Der Vater ging nach der einen Seite und Myrto mit ihrer Mutter nach der anderen.

Zu Wasser und zu Lande waren sie gereist. Anfangs hatten sie in einem Eisenbahnwaggon die Städte durchquert Und schließlich wurden sie auf einen Kahn verladen, dessen alte Maschine keuchte.

Myrto dachte an ihren Vater und an ihre Puppe. Sie konnte nicht einschlafen. Eines Tages waren sie endlich am Ziel. "Mama, was ist das für ein Land?" hatte sie gefragt. "Und warum hat man uns hierher gebracht?"

"Wir wurden deportiert", sagte die Mutter Wieder hatten Fremde das Land in Besitz genommen. Sie sagten nicht, daß sie Krieg führten. Aber sie gaben, den Befehl, Mütter mit ihren kleinen Kindern zu deportieren. Sie hießen Amerikaner.

Es gab viele Frauen in der großen Kaserne, in die sie eingesperrt wurden. Viele Frauen und Kinder. Am Abend des ersten Tages ging Myrto zu einem kleinen Mädchen und flüsterte ihr ins Ohr: "Hast du wenigstens deine Puppe mitgenommen?" Dann lief sie zu ihrer Mutter: "Wir sind schon zwei, die von ihren Kindern getrennt worden sind."

Die Mutter sah ihr in die Augen und bemerkte voller Erstaunen, daß Myrto plötzlich erwachsen und eine kleine Frau geworden war. Das erste Weihnachten im Lager.

Dann kämpften die Frauen in der Kaserne mit den Gendarmen. Jedes Stückchen Kraft, das ihnen das Leben erhielt, jede Minute, die ihr Dasein verlängerte, entrissen sie denen, die Angst hatten, es ihnen zuzugestehen.

Myrtos Mutter kämpfte außerdem noch gegen die Krankheit ihrer Tochter. Myrto aß kaum noch etwas. Ihre Augen waren von schwarzen Schatten umgeben. Kein Arzt, keine Arznei. Die vielen Frauen, die in dieses Lager gesperrt waren, konnten alle Krankheiten nur durch die Kraft ihres Wortes heilen. Nur durch die Macht eines hartnäckigen Willens, der weiterglaubte, dass eines Tages wieder Weihnachtsgeschichten geschrieben werden.

*Weihnachtsgeschichte SED-Broschüre 1952

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