Jetzt geht es ans Eingemachte, jetzt wird Klappentext gesprochen, zumindest im Bundestag und in den Kommentarspalten der Leitmedien. Während Peer Steinbrück eine Frittenbuden-Theorie vertritt und Angela Merkel sicher ist, sich nicht verstecken zu müssen, liefert
Marko Martin in der "Welt" eine erste, echte Tiefenanalyse der deutschen Zustände. Er findet einen "Staat, gebaut auf Illusionen", in dem die "Kaviar-Linken" trotz des Debakels um die Landesbanken, trotz des gescheiterten Versuchs, Europa von oben zusammenzuschmieden und trotz des im leninschen Stil verordneten "Energieausstieges" weiter "blind auf die alte Stärke des Staates" vertrauen. Weshalb, fragt der Autor, schaut bei
Deutschland niemand genauer hin? Soll doch dieses Land den ganzen Kontinent aus der Bredouille bugsieren?
Denn durch diese Verantwortung wird Deutschland zum größten Sorgenkind Europas. Das Land, das Europa retten soll, ist selbst schwer angeschlagen. PPQ dokumentiert den bemerkenswerten Text aus der "Welt":
Es ist schon bizarr: Da beugen sich seit Jahr und Tag Wirtschaftsexperten und Mentalitätsforscher über die Krisenländer des europäischen Südens, um uns alsdann ihre Hiobsbotschaften mitzuteilen, eine beunruhigender als die andere. Und während der ganzen Zeit hielt das Gerede von "Kerneuropa" an, am Laufen gehalten vom "deutsch-französischen Motor", der nicht "stottern" dürfe.
Inzwischen, angesichts Deutschlands beständig nachlassender Wettbewerbsfähigkeit und horrender Staatsverschuldung (derzeit sind es gar 90 Prozent seines BIP), stellt sich eine Frage: Haben wir es hier mit einem Kommunikations-Gau zu tun, einer naiven Blindheit auf allen Seiten – oder mit dem vielleicht letzten Pyrrhus-Sieg in der speziellen deutschen Kunst des
Nebelwerfens?
An etwaigen deutschen Schuldkomplexen liegt es jedenfalls nicht, dass die Dauer-Malaise der stärksten europäischen Volkswirtschaft bislang kaum in den Blick geraten ist. Wie viel Steuerzahlergeld für unsinnige Routine-Tagungen und Forschungsprojekte zur europäischen Integration auch hierzulande verschleudert wurden – das stets so pathetisch Beschworene ist längst im allerbanalsten Sinn zu Realität geworden. Will heißen, man ist sich gegenseitig herzlich egal. Das ist, ganz ohne Konferenztheater, die gegenwärtige Lage und wenig gäbe es daran auszusetzen, wäre nicht das Land, das alle retten soll, der nächste Wackelkandidat.
Noch einmal also: Weshalb sah niemand genauer hin? Eine unfreiwillig indirekte Erklärung lieferte vor zwei Wochen der Euro-Gruppenchef
Jean-Claude Juncker, der der deutschen Rettungspolitik ein
vernichtendes Urteil ausstellte und einschneidende Reformen forderte. „Wieso eigentlich erlaubt sich Deutschland den Luxus, andauernd Innenpolitik in Sachen Eurofragen zu machen? Warum behandelt Deutschland die Euro-Zone wie eine Filiale?“, polemisierte der Mann, der einst selbst dank lukrativer Staatsaufträge Karriere gemacht hatte. Sein Krisen-Tremolo war erneut halb bolschewistisch, halb talmi-elegant, perfekt passend zu seiner Geschichte als einer der Männer, die seinerzeit den angeblichen „Kompromiss von Dublin aushandelten“, der erst das Scheitern des
„Stabilitäts- und Wachstumspaktes“ möglich machte, das Europa in die Schuldenfalle führte.
"Le style, c´est l´homme" hatte einst Madame de Staël gemeint, was sich gewiss auch ins Deutsche übersetzen ließe. Allerdings mit beunruhigendem Resümee, erscheint die deutsche Gesellschaft doch weiterhin im Plapper-Modus gefangen. Die Frage, wie es um die Ehe von Horst Seehofer stand, wie die Brüste von Angela Merkel bei einem Opernbesuch außerhalb der Euro-Zone aussahen oder welche Märchenlesungen Peer Steinbrück wo absolviert hat, war während der inzwischen fünf Jahre andauernden Krise von größerem Interesse als die offene Verachtung der politischen Klasse für demokratischer Gewaltenteilung und die skandalöse Instrumentalisierung des Geheimdienstes zur
Überwachung des verbliebenen Rests kritischer Journalisten.
Das höfisch-lakaienhaft anmutende Rätselraten geht weiter: Verrät Angela Merkel in ihrer Körpersprache trotz Pokemon-Jäckchen etwas mehr Reformmut, hat Wirtschaftsminister Wolfgang Schäuble als ehemaliger Innenminister womöglich gar einen besseren Draht zur spröden IWF-Chefin Lagrande?
Dabei hat selbst das Geschwätz im Inzucht-Zirkel von Berlin klare Grenzen zu beachten. Andernfalls hätte man ja vielleicht darauf aufmerksam machen können, das trotz anhaltender Verelendung weiter Bevölkerungsschichten Politiker alle Parteien zuallererst einmal darum besorgt waren, die unklare Regelung zur privaten Nutzung kostenloser Bahn-Netzkarten für Abgeordnete schnell rechtssicher zu machen.
Man muss gewiss kein staats-misstrauender "Spekulant" oder „Manager“ sein (im gegenwärtigen Deutschland eine noch größere Beschimpfung als „Massenmörder“ oder „Arschloch“), um eben diese Mixtur aus Geschichts- und Gegenwartsverdrängung brandgefährlich zu finden und in der Kontinuität des ewig gleichen, elitär-unfähigen Personals einen entscheidenden Grund für die Krise.
Wirkliche Alternativen aber sind rar. Eine Christ- oder Sozialdemokratie existiert nicht, so dass sich Linke und Rechte vor allem in ihrem Etatismus einig sind, ihrem Kleinhalten privater Mittelschicht-Initiativen und einem lagerübergreifenden Protektionismus, der schamlos die antikapitalistische Rhetorik einer möglichst allumfassenden Gleichheit bedient. Währenddessen gehen Deutschland Exporte zurück, die Jugendarbeitslosigkeit stagniert, in den Vororten grassiert muslimischer Juden-Hass, die Sozialversicherungssysteme stehen vor dem Kollaps, die Staatspleite droht.
Wo aber bleiben dann die deutschen Wirtschafts-Essayisten, die mit dem quasi-sozialistischen Charakter ihres Landes abrechnen? Wo die auf Montesquieus Gewaltenteilung rekurrierenden Politikwissenschaftler, die das Beziehungsgeflecht der Institutionen einmal unter die Lupe nehmen würden? Ausgerechnet jenes Land, in dem das Studentenjahr 68 derart turbulent verlaufen war, ist von allen westeuropäischen Gesellschaften am autoritärsten geblieben: Hier regiert die Kanzlerin, niemand sonst.
Bis heute gibt die übergroße Mehrheit junger Leute als Berufswunsch "Hartz 4" an oder eine todsichere Stelle im geliebt-gehassten Beamtenapparat. Währenddessen zeigt das Kino weiterhin fein ziselierte Durchhalte- und Beziehungsfilmchen, ganz im Geiste der Kassenschlager "Rommel": Die erträumte Rückkehr in den hortus conclusus der deutschen Idylle, wo der Rotwein ewig mundet und selbst das Fernsehprogramm subventioniert ist. Die Zeit wird zeigen, wie realistisch das ist.