Dienstag, 14. August 2012

Olympia-Rückblick: Leiden nach London

Gewaltig rumsten die Abschüsse von vier Feldhaubitzen über die Festversammlung der Hunderttausend hin. Bei der Schlußfeier der Olympischen Sommerspiele schickte eine bunte Showtruppe dem Muskelkrieg von London ein martialisches Echo nach. Zum ersten Male in der Geschichte des "friedlichen Wettstreits der Völker und Nationen" hatte ein gastgebendes Land schweres Rock-Geschütz mitten im Olympia-Stadion aufgefahren.


"Hier ist jeder der Teufel des anderen", hatte eine Berliner Sprinterin schon bald nach Beginn der Spiele von der Atmosphäre in der deutschen Olympia-Mannschaft vorlaut geäußert. Die Teufelei ging, nach Ende der olympischen Tage offenbar erst richtig los. Noch ehe die "Medaillen-Bomber" der Deutschen mit ihren 44 Gold-, Silber- und Bronzeplaketten sowie fast zehnmal so vielen London-Fahrern wieder auf deutschem Boden gelandet waren, wurde sozusagen das Fell des Sündenbocks unter den Enttäuschten geteilt.

"Wir sind durch zu hartes Training um unsere Staffel-Medaille gekommen", erläuterte eine Leichtathlethin das Versagen der chancenreichen 4 mal 100-Meter-Frauenstaffel, die kurz vor der verpatzten Entscheidung noch Europameister geworden war. Ein Kollege von der 4 mal 100-Meter-Schwimmstaffel der Männer vergaß sich in seinem Unmut über die entgangene Medaille sogar so weit, daß er falsch Zeugnis gegen seinen nächsten Sport-Vorgesetzten gab: "Als wir in London aus dem Flugzeug stiegen, waren wir in Hochform. Als wir nach dem Training durch an den Start gingen, waren wir ausgepumpt oder verletzt."

Mit seinem Maulen offenbarte der junge Mann nicht nur den alten Charakterfehler der Deutschen, nach eigenem Versagen anklagend mit dem Finger auf andere zu zeigen. Er gab mit seiner Theorie von sportlicher Hochform auch all denen eine Vorstellung von der Selbsteinschätzung deutscher Olympia-Teilnehmer, die die Reporter von ARD und ZDF beim Abschlußtraining nicht hatten beobachten können.

Die Wirkung solcher Äußerungen aus dem deutschen Olympia-Team war durchschlagend. Sportlich nichtsahnende Illustrierten-Redakteure stellten daraufhin Indizien zu Bildleisten zusammen, auf denen die Opfer des falschen deutschen Trainings nach den jeweiligen Beständen des Bild-Archivs registriert waren.

London hat bewiesen, daß deutsche Olympia-Teilnehmer kein Verständnis für Trainingshärte haben - nicht immer aus Gründen, die außerhalb ihres Charakters liegen. Ein Fachmann und neutraler Augenzeuge der Londoner Ereignisse, der nicht genannt werden will, prangerte gewisse Mitglieder der deutschen Olympia-Mannschaft an, "von denen man den untrüglichen Eindruck hat, sie machen blau. Sie haben eine Reise geschenkt bekommen, sie wurden belohnt, ehe sie gearbeitet hatten." Ein anderer Experte bemerkte ironisch im Hinblick auf das halbgute Abschneiden der Deutschen bei den Olympischen Reiter-Spielen: "Vielleicht wären hier ein paar Pferde nötig, um gewissen deutschen Laufern über die Aschenbahn zu helfen."

Auch der Sportwart des deutschen Teams erklärte: "Wir hatten zwei Trainingssysteme in unserer Mannschaft: die weiche' Methode der Westdeutschen und die 'harte' der Ostdeutschen." Deprimierend dabei sei: "Beide Systeme haben versagt."


Es lag wohl auch an der Unterbringung - so musste der Diskuswerfer Hartwig auf der Straße schlafen. Andere Teilnehmer berichten: "Wir wohnen alle so eng aufeinander und werden nervös und gereizt. Viele von uns können nachts nicht schlafen und verlieren dementsprechend ihre Form."

So wurde es nichts mit Spitzenleistungen, wie ein Sprinter bestätigte: "Zwei Nächte habe ich nicht mehr geschlafen. Diese ewige Rennerei hier macht mich verrückt."

Nur als Nervensache läßt sich erklären, dass die deutsche Leichtathletik-Mannschaft von zahlreichen Ausfällen heimgesucht wurde, deren Ursachen sich nicht immer ganz erklären ließen. "Erfolgreichster Teilnehmer der Deutschen muß Hiob sein", spöttelte die Tageszeitung "Die Welt" und stellte fest: "Die deutschen Athleten haben, bis auf wenige Ausnahmen, den Kampf vor dem Kampf Verloren. Der bloße Gedanke, sich zur Stunde X stellen zu müssen, hat einige entnervt, bei anderen hat er die seltsamsten Krankheiten und Verletzungen hervorgerufen, die kein Arzt zu heilen vermag."


Der Rest der schonungslosen und für alle Zeiten geltenden Analyse aus dem Jahr 1956 kann hier im Original nachgelesen werden.

4 Kommentare:

  1. „Wir wohnen alle so eng aufeinander und werden nervös und gereizt...

    Hier gilt seit Baron de Coubertin: Wenns um Komfort geht, werde nicht Sportler, sondern Sportfunktionär. Dann fährst/fliegst Du erste Klasse statt wie die Ath- und Proleten im Zwischendeck.

    AntwortenLöschen
  2. Wer hätte auch ahnen können, daß Sprinter zu sein, etwas mit Rennen zu tun hat?

    AntwortenLöschen
  3. Sensible Naturen scheitern an dem unmenschlichen Leistungsdruck. Der muß unbedingt weg. Dann klappt es mit der Erfüllung der Planvorgaben.

    AntwortenLöschen
  4. Zum Thema Olympiade erlaube ich mir, Euch unseren guten Freund und Sympathisanten Dikigoros nahezulegen.
    Das Alter bricht den Frieden, den der Ger ihm (=dem feigen Mann) gab. Mitte der Siebziger traf ich noch mit der Kalaschnikow auf 200 Meter einen Bierdeckel, heute mit dem Mosin-Nagant auf 100 Meter einen Kuchenteller.
    What a drag is it getting old...

    AntwortenLöschen

Richtlinien für Lesermeinungen: Werte Nutzer, bitte beachten Sie bei ihren Einträgen stets die Maasregeln und die hier geltende Anettekette. Alle anderen Einträge werden nach den Vorgaben der aktuellen Meinungsfreiheitsschutzgesetze entschädigungslos gelöscht. Danke.