Donnerstag, 26. Juli 2012

Europa braucht Supraleitung

Der Europarechtler Thomas Fritz fordert im Interview eine grundlegende EU-Reform zur Abschaffung der Finanz- und Staatskrise. Wenn der Euro scheitert, droht ein antieuropäischer Populismus, sagt der Kölner Experte, der von 2006 bis 2010 in Lettland gearbeitet hat. PPQ-Gebärdendolmetscherin Frauke Hahnwech hat das Gespräch von Fritz mit Zeit Online übersetzt und herausgearbeitet, was der Wissenschaftler wirklich meint, wenn er von "Europa-Populismus", "Bürgerbeteiligung" und "europäischem Zusammenhalt" spricht.

Frage: Mitten in der Euro-Krise wird nun wieder über eine stärkere europäische Integration diskutiert. Ist die EU in der bisherigen Form nicht mehr in der Lage, mit den gewaltigen Problemen fertig zu werden?

Fritz: Das sehen wir ja jeden Tag. Es hat sich gezeigt, dass die EU mit ihren schwerfälligen, zum Teil undemokratischen Entscheidungsverfahren und ihrer ewigen mühsamen Kompromissfindung nicht schnell und nachhaltig genug auf Krisen reagieren kann. Dazu bräuchte es eine Diktatur - oder doch wenigstens einen Prozess der Entscheidungsfindung, der ein paar Potenzen einfacher ist. So stehen wir eben da: Das Bundesverfassungsgericht sieht die Grenzen dessen, was an Souveränität im Rahmen des Grundgesetzes an Brüssel übertragen
werden darf, nahezu erreicht, gleichzeitig wird der Ruf nach der Abgabe von immer mehr Souveränität etwa in Finanzangelegenheiten immer lauter. Beides geht ja nicht. Stellen Sie mir jetzt aber bitte bloß nicht die Frage, ob nicht weitere Schritte zur europäischen Integration notwendig sind. Die Antwort wäre zu peinlich.

Frage: Sehen Sie denn Chancen, dass die EU auf absehbare Zeit auf dem Weg zu einer politischen Union vorankommt?

Fritz: Notwendig wäre das, aber nach den Vorgaben des Grundgesetzes scheint es nicht möglich zu sein. Deshalb bin ich skeptisch. Im Moment wird nur über eine Finanz- und Wirtschaftsunion geredet, aber selbst die könnte das Verfassungsgericht mit seiner Entscheidung im September schon stoppen. Wie soll es da bitte zu einer engeren politischen, sozialen und gesellschaftlichen Union gehen? Leider müssen die Bürger ja immer beteiligt werden, wenn man mit Europa vorankommen will.

Frage: Halten Sie eine neue Debatte über eine europäische
Verfassung für sinnvoll?

Fritz: Die Bürger haben doch schon der Verfassungsvertrag von 2004 scheitern lassen. Stellen Sie sich vor, der wäre durchgekommen! Dann säßen wir heute aber erst recht in der Tinte! Eine gemeinsame Verfassung hätte der europäischen Politik eine höhere Autorität und Legitimation gegeben, die Staaten hätten einfach machen müssen, was Brüssel sagt. Keine langen Diskussionen! Bei den Bürgern hätte das das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt. Wir hier unten gegen die da oben. Das ist doch immer so. Stattdessen wurde der Vertrag von Lissabon geschlossen, bloß weil ein paar Volksabstimmungen daneben gegangen waren.

Frage: Eine neuerliche Verfassungsdebatte wäre also aussichtslos?

Fritz: Sie wäre wünschenswert, ist aber wenig wahrscheinlich, weil ohne den Mut zum Verfassungsbruch wird bei der gegenwärtigen Stimmung ja jede europäische Verfassung abgelehnt. Auch würde eine Verfassung natürlich nicht eins unserer Probleme lösen, selbst wenn sie beim nächsten Mal nicht nur 500, sondern 5000 Seiten dick wäre. Ich denke
jetzt manchmal über eine völlig neue supranationale europäische Union nach, vielleicht ohne Mitgliedstaaten, aber handlungsfähiger und geschlossener als die jetzige. Jedes Land könnte dann tun, was es will, und jeder Bürger könnte sagen, ich trete der EU bei. Aber auch das könnte nur eine Übergangslösung sein. Sie könnte allerdings den notwendigen zeitlichen Freiraum verschaffen für einen geordneten Übergang zu einem europäischen Bundesstaat.

Frage: Haben wir noch soviel Zeit, um in Ruhe über all diese Fragen nachzudenken?

Fritz: Ich ja, ich werde ja nicht so schlecht bezahlt wie die Kollegen in Griechenland. Ich setzte große Erwartungen in den bevorstehenden Wirtschaftsabschwung. Angst ist ein schlechter Ratgeber, sagte mein Großvater immer - also könnte der Übergang vom alten Nationalstaat, wie wir ihn kennen, zu einem demokratisch nicht behinderten europäischen Bundesstaat recht schnell kommen, wenn sich die Krise zuspitzt, die Wirtschaft abzustürzen droht und dann auch noch die Verfassungsgerichte einiger Mitgliedstaaten die Grenzen dessen, was an supranationaler Integration mit den gegenwärtigen Staatsverfassungen machbar ist, erreicht sehen. Das könnte eine grundsätzliche Neuaufstellung Europas erzwingen.

Frage: Wie lange bräuchte man, um eine europäische Verfassung zu erarbeiten?

Fritz: Um eine Verfassung für einen europäischen Bundesstaat gründlich vorzubereiten, bräuchte man mehr Zeit, mehr als vorhanden ist. Eine Notverfassung, eine Übergangsverfassung für eine neue supranationale EU könnte man dagegen schnell beschließen. Wie immer am Wochenende kleinen Spitzengipfel, vier Beamte, die sich was ausdenken, ein Kopierer und ein paar zu allem entschlossene Männer im Anzug, die das durchwinken. Das muss ja passieren, bevor die Märkte in Fernost am Montagmorgen öffnen. Manche Teile, zum Beispiel den Grundrechtskatalog, könnte man aus dem Verfassungsvertrag von 2004 übernehmen, das war ja nicht alles schlecht.

Frage: Müsste das Endziel ein europäischer Bundesstaat sein? Oder gäbe es auch etwas darunter – irgendwo zwischen dem jetzigen Staatenbund und einer Föderation?

Fritz: Eine Lösung dazwischen haben wir schon. Und die ist keine. Die EU ist schon jetzt in mancher Hinsicht zentralisierter als manche Bundesstaaten wie etwa die USA. Der Übergang zu einem europäischen Bundesstaat wird sich eines Tages auch empfehlen, um beständigere Strukturen zu schaffen und eine weitere Zentralisierung zu verhindern.Wozu das alles gut sein soll und weswegen es Politiker prinzipiell für besser halten als das, was wir bis zur Einführung des Euro hatten, weiß ich nicht. Es gibt da wohl keinen speziellen Grund, meiner Meinung nach kommt es daher, dass es einer mal gesagt hat und alle anderen reden seitdem so, als seien sie selbst drauf gekommen.

Frage: Wenn man die Betreffenden fragt, was die Vorteile sind, was sagen die dann?

Fritz: Fragen Sie sie! Eigentlich nichts, denn sie wissen ja nichts, weil es nichts gibt. Es geht ja den Schweizern oder den Norwegern heute nicht schlechter, nur weil sie ihre eigene Währung haben. Und den Griechen oder Spaniern nicht besser, weil sie keine mehr besitzen. Aber solche Fragen stellt ja keiner, weil das Ziel ist, voranzukommen, egal, wohin. Ich könnte mir vorstellen, dass vor allem die EG-Gründerstaaten, also Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten immer mitmachen, wenn es im eine weitere Vertiefung der Integration geht. Da will ja niemand zugeben, dass das Experiment schiefgegangen ist. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass sich Österreich, Polen, Slowenien, Spanien, Portugal und - lachen Sie nicht - eventuell sogar die Schweiz beteiligen würden, wenn es um eine ernsthafte Perspektive einer gemeinsamen europäischen Zukunft auf der Grundlage unserer gemeinsamen Werte und der uns verbindenden europäischen Kultur geht. Aber all das haben wir ja nicht.

7 Kommentare:

  1. Weltklasse ! Wo kann man das lernen, das Gebärdendolmetschen ? Klartext in der Politik ohne einen Laut zu sagen !

    ...Und dann auch noch die Wahrheit und nix als die Wahrheit...

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  2. weil diese frage öfter kommt, gibt Frauke Hanwech ab nächstem semester kurse an der volkshochschule in nchsterstedt. da geht es um das große thema "politik verstehen". ab 2013 läuft dann baustein II, immer dienstags ab 19.30 uhr in raum 11: "politik begreifen". der kurs geht aber über 24 semester

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  3. Die Bürger müssen beteiligt werden, wenn man mit Europa vorankommen will...

    Schmitz hat wirklich keinen Schimmer, denn die Bürger werden schon beteiligt, die Bürger Deutschlands mit mittlerweile ein paar hundert Milliarden an Bürgschaften oder so. Damit ist auch langsam klar, woher das Wort Bürger kommt.

    Wenn ich Schmitz richtig verstanden habe, werden sich die Schulden der europäischen Staaten in Ambrosia verwandeln wenn der Oberste Sowjet in Brüssel endlich vollständig das Sagen hat. Was für ein Windbeutel.

    Alles zum Wohle des Volkes, vorwärts, und nicht vergessen.

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  4. "...weitere Schritt..."

    Schönes copy + paste

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  5. Da weiß man nicht, wo man zuerst anfangen soll, über welchen Quatsch sich zuerst aufregen. Die üblichen Phrasen werden wieder aufgeführt, aber das ist alles hier schon besprochen worden.

    Klasse Klarstellung des wirklich Gesagten nichtsdestotrotz.

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  6. Karl_MurxJuli 30, 2012

    "also könnte der Übergang vom alten Nationalstaat, wie wir ihn kennen, zu einem demokratisch nicht behinderten europäischen Bundesstaat recht schnell kommen, wenn sich die Krise zuspitzt, die Wirtschaft abzustürzen droht und dann auch noch die Verfassungsgerichte einiger Mitgliedstaaten die Grenzen dessen, was an supranationaler Integration mit den gegenwärtigen Staatsverfassungen machbar ist, erreicht sehen."

    Hier scheint ein gewisse Hoffnung vorhanden zu sein, das Bundesverfassungsgericht könnte diesen "ESM"-Schirm noch stoppen, weil es auf Grund seiner Funktion als Hüter des Grundgesetzes verpflichtet wäre, diese klaren Verfassungsbruch zu verhindern.

    Aber warum, so meint man, hat sich das BVG eine so lange Beratungspause (drei Monate) ausgebeten? Weil es die "Entwicklungen abwarten" oder "ohne Zeitdruck" prüfen will, ob diese Selbstkastrierung der deutschen Politik eventuell doch nicht das sein könnte, was sich die Verfassungsväter so vorstellten?

    Oder doch vielmehr deswegen, weil es die lange Zeit braucht, um sich eine gutklingende Begründung dafür auszudenken, diesen Verfassungsbruch zu genehmigen, natürlich nicht, ohne die üblichen eisernen juristischen Schranken einzuziehen wie die dringende Ermahnung des Bundestages, doch des öfteren mal genau hinzuschauen, was die Finanzminister der europäischen Länder so mit dem Geld des deutschen Steuerzahlers anstellen?

    Die roten Roben am BVG sind genauso Teil der politisch-juristischen Nomenklatura wie all die anderen Großkopfeten in Regierung und Bundestag. Es müßte ein deutsches Wunder geschehen, wenn sich da mehrere Vertreter dieser Nomenklatura auf einmal gegen ihre eigene Schicht auflehnen würden. So viele Sarrazins auf einen Haufen kann es eigentlich gar nicht geben.

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  7. korrekte analyse, karl. erst wird gerettet, dann gerichtet

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