Dienstag, 5. Juli 2011

Wiedergeboren als aussterbende Art

Wie alle seine Vorgänger ist auch Reiner Haseloff, der derzeit amtierende Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, angetreten, sein Land noch kinderfreundlicher zu machen. Nicht zu übersehen sind die Fortschritte, die das ehemals ostdeutsche Bundesland dabei in den vergangenen zwei Jahrzehnten gemacht hat. In punkto Familienfreundlichkeit, das zeigt die Karte oben rechts, liegt es bereits weit vorn. Wie alle anderen ostdeutschen Bundesländer zeigt sich das Land von Händel, Martha Brautzsch, Gerhard Lichtenfeld, Telemann, Dieter Hallervorden und Margot Honecker als Ort, an dem Familienalles vorfinden, um miteinander glücklich zu werden. Die Kinderbetreuung ist weltweit führend, es gibt kostenloses Obst zur Hofpause, zahlreiche H&M-Filialen und neuerdings sogar Spielplätze, auf denen nicht geraucht werden darf.

Eine direkte Folge scheint die Karte oben links anzudeuten: Die Geburtenrate der solchermaßen verwöhnten Einheimischen ist rekordverdächtig niedrig. Statt sich durch die Kümmerer in der Landespolitik animieren zu lassen, immer mehr Kinder zu bekommen, weil die „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ durch die Rundumbetreuung so gut ist wie seit den Amtszeiten von Erich Honecker nicht mehr, scheint zu viel Fürsorge abschreckend zu wirken. Der Glaube, "durch eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf würden Familien nicht nur freundlicher, sondern auch größer", täusche offenbar, attestiert Netzwerk Recherche - wie anders lasse sich erklären, dass die Geburtenraten gerade dort am höchsten seien, "wo es für Familien laut Statistik besonders unfreundlich ist, und dort am niedrigsten, wo sich Familie und Beruf bestens miteinander vereinbaren lassen".

Immer weniger Geburten aber bedeuten immer weniger Kinder und immer mehr Zeit für immer mehr Kindergärtnerinnen, sich um jedes einzelne Kind zu kümmern. Besseres Kümmern und intensivere staatliche Betreuung wiederum verheißen mehr Familienfreundlichkeit, die, das zeigen die Statistiken, zu immer noch weniger Kindern führen. Je intensiver und nachhaltiger diese vielversprechende Strategie verfolgt wird, desto schneller ist das Ziel mit Leben zu erfüllt, das knackig im Motto der Landesimage-Kampagne beschrieben wird: "Wir sterben schneller aus" (Plakat oben) .

Mehr aus der großen PPQ-Serie "Wiedergeboren als..."

14 Kommentare:

  1. Also das Imagekampagnen-Bild geht gar nicht, offiziell ist allein dieses hier:
    http://netzwerkrecherche.files.wordpress.com/2010/09/sachsen-anhalt-wir-stehen-frueher-auf1.jpg

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  2. deins verstößt eindeutig gegen die designvorgaben der agentur, die das erfolgreiche ursprungsmotiv entworfen hatte!

    da würde ich an deiner stelle noch mal nachjustieren, denn sonst gibt es wieder ärger mit dem kümmerer wegen der urheberrechtsradikalen! hier die designvorlage

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  3. Krone der SchöpfungJuli 05, 2011

    genial

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  4. Die Karte mit den Geburten stammt aus dem Jahre 1996. Schlappe 15 Jahre alt und aus einer Zeit, in der sich die Ostdeutschen wegen unklarer Zukunft mit dem Kinderkriegen (noch) zurückhielten.
    Aber egal, Hauptsache 'ne Story.

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  5. vakna, der unterschied zwischn 95 und jetzt ist sooooo groß leider nicht

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  6. Kann man irgendwie nicht so richtig vergleichen, Geburtenrate (Karte 1996) und Bevölkerungsentwicklung (dein Link) sind verschiedene Dinge.

    Die rechte Karte stammt übrigens aus dem Jahr 2007. Zwei Karten mit 11 Jahren Unterschied in der Datenbasis zu vergleichen, ist eigentlich einen Beitrag bei politplatschquatsch wert. Die nehmen sowas gerne auseinander.

    Egal, mir ging es auch mehr darum, daß da Dinge zusammengeworfen werden, um etwas zu "beweisen", ohne die Geschichte und die Zusammenhänge zu beachten.

    Ich weiß, daß die meisten der Kindergärtnerinnen eine gute Arbeit machen (wenigstens die, die in der DDR ausgebildet wurden), würde sogar mein Kind in so einen Kiga schicken, wenn es denn hier so einen gäbe. Daß ich das nicht bezahlen könnte, ist eine andere Geschichte.
    Ich weiß, daß vorhandene Kinderbetreuung keine Frau dazu bringt, mehr Kinder zu bekommen. Hier gibt es praktisch keine Kinderfremdbetreuung außer 3 Stunden pro Woche Waldkindergarten und die Leute werfen wie die Karnickel.
    Und ich weiß im Gegensatz zum Ersteller des ursprünglichen Beitrags, daß die niedrige Geburtenrate in der ex-DDR andere Gründe als die Kindergärten hat, nämlich den Wegzug vieler junger Leute, der Zurückhaltung beim Kinderkriegen wegen immer noch ungünstigem Verhältnis von Verdienst und Lebenshaltungskosten und dem weitgehendem Fehlen gebärfreudiger Zuwanderer aus Südland.

    Der Umstand, daß viele in Ostdeutschland geborene im Westen ihre Kinder bekommen wird genauso außer acht gelassen wie der Umstand, wer da noch so alles seine Kinder im goldenen Westen, wo ja alles besser ist, ans Licht der Welt preßt.

    Je länger ich über den Beitrag nachdenke, desto hirnrissiger finde ich ihn...

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  7. da magst du recht haben. ich habe den zeitunterschied gar nicht bemerkt, mich beschäftigte wirklich mehr der von den karten gezeigte farbunterschied. grober klotz, sozusagen.

    insofern gebe ich dir recht, wobei eben immer noch der tatbestand steht, dass die geburtenrate im westen höher ist als im osten. selbst wenn ich deine argumente einrechne, dass da eben viele aus ganz anderen gründen wegziehen, bleibt fakt, dass bessere betreuung kein argument zu sein scheint für höhere geburtenraten, wie die entwicklung in der späten ddr zeigt.

    da gibt es hier ein schönes papier

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  8. VolkerStrammJuli 06, 2011

    Hier das Rececling meines Senfs von NWR:

    Bei Wikipedia eine Karte mit der Geburtenziffer von 2007 (das gleiche Jahr wie die Familienfreundlichkeitskarte)
    http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Fertilit%C3%A4t_Deutschland_2007.png&filetimestamp=20110519131006

    http://de.wikipedia.org/wiki/Geburtenziffer

    Die ist nicht mehr so eindrucksvoll wie die von 1996. Aber das spielt keine Rolle. Dass mehr Kinderbetreuung zur Erhöhung der Geburtenrate führt, ist eine Tatsache, die ausschließlich in den Gehirnen der Berufslügner (Wissenschaftler, Journalisten, Politiker usw.) existiert. Mit dem realen Leben hat das nichts zu tun. Im Osten gibt es ca. 10 mal so viele Betreuungsplätze wie im Westen, die Geburtenrate ist geringfügig geringer.

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  9. @vakna
    Gut, dann hier aktuelle Zahlen, eben mehr "exemplarisch":

    So bietet das Land Sachsen-Anhalt im bundesweiten Vergleich tatsächlich „die meisten Plätze in Kindertagesstätten für Kinder unter drei Jahren. Das Statistische Bundesamt teilte mit, dass dort 53 Prozent der Kleinkinder in Kindertageseinrichtungen betreut werden.“ [4] Die Bereitstellung solch einer Betreuung wird natürlich dort umso einfacher, wo es weniger Kinder gibt. So war nach der Wiedervereinigung die Geburtenrate in den neuen Ländern auf durchschnittlich 0,77 Kinder pro Frau zurückgegangen – der weltweit niedrigsten Geburtenrate nach dem Vatikan. Und selbst hier gibt es noch Negativrekorde: „In Sachsen-Anhalt liegen die vier größten ,Problemkreise’: Bernburg, der Burgenlandkreis, das Mansfelder Land und Köthen. Nur noch ein Drittel der Einwohner ist hier jünger als 35 Jahre.“ [5]

    Das Ziel der Bundesregierung, bis zum Jahr 2013 die „Betreuungsquote“ für Kinder unter drei Jahren auf bundesweit 35 Prozent zu erhöhen, wird derzeit zwar in weiten Teilen der neuen Bundesländer erreicht, in Westdeutschland aber einzig und allein in der Stadt Heidelberg. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung stellte für westdeutsche Städte fest: „Am wenigsten Nachwuchs gibt es in den Studentenstädten Würzburg und Heidelberg – den einzigen Kreisen, in denen durchschnittlich weniger als ein Kind je Frau zur Welt kommt.“ [6]

    Doch sollen nicht nur die besonders negativen Fälle genannt werden: „Die niedrigsten Betreuungsquoten gibt es im Kreis Olpe (Nordrhein-Westfalen) mit 3 Prozent sowie in den Kreisen Cloppenburg und Leer (Niedersachsen) mit jeweils 4 Prozent.“ [4] – „Die meisten Kinder werden im westniedersächsischen Cloppenburg geboren – dort bekommt jede Frau durchschnittlich 1,8 Kinder. Im Umfeld dieser Stadt liegen sechs der zehn Kreise mit den deutschlandweit höchsten Kinderzahlen. Entsprechend hoch ist auch der Bevölkerungsanteil der unter 35-Jährigen. In Cloppenburg sind 47 Prozent aller Einwohner in diesen jungen, produktiven und kreativen Jahren, auch das ist Spitze in Deutschland.“ [6]

    http://netzwerkrecherche.wordpress.com/2010/09/28/fruhaufsteher/

    Wenn sich Familienfreundlichkeit an Betreuungsquoten orientiert, dann kann es legitim sein, eine um einige Jahre ältere Skala der Geburten einer neueren der Betreuung gegenüberzustellen.

    Die Quintessenz des "Ersteller des ursprünglichen Beitrags" ist, daß Betreuungsangebote eben nicht die Geburtenrate erhöhen, sondern eine traditionelle Familienstruktur, wie sie in katholischen Gegegenden eher gegeben ist.

    "Familienfreundlichkeit" setzt also hier den Hebel an - die Prognos-Karte vermittelt aber genau das Gegenteil.

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  10. die kritik ist schon berechtigt, schöner wäre es gewesen, wenn die karten andersherum wären: die karte familienfreundlichkeit von 1995, aus der dann die karte geburten 2010 resultiert.


    das wäre fast schon das ideal, weil zwei karten nicht nur daten, sondern auch langsfristige folgen abbilden würden.

    aber man kann eben nicht alles haben

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  11. Ja, kann man wohl nicht. Wir stießen zuerst auf die Familiefreundlichkeitskarte und suchten - die aufgeführten "exemplarischen" Fälle im Hinterkopf - nach der Geburtenkarte und fanden die ältere. Das mag nun überzeichnet sein, stimmt aber offensichtlich immer noch in der Tendenz. Krümelkacker und Mäkelheinis werden aber immer einen Aufhänger finden.

    Und ob nun auf das stockkatholische Cloppenburg samt umliegender Kreise mit seinen höchsten Geburtenraten und niedrigsten Betreuungsquoten
    der "Wegzug vieler junger Leute, der Zurückhaltung beim Kinderkriegen wegen immer noch ungünstigem Verhältnis von Verdienst und Lebenshaltungskosten und dem weitgehendem Fehlen gebärfreudiger Zuwanderer aus Südland" anzuwenden wäre, wurde noch nicht geklärt.

    Und daß der "Wegzug vieler junger Leute, der Zurückhaltung beim Kinderkriegen" besondere Familienfreundlichkeit darstellt, wird mir auch nicht ganz klar.

    Sei's drum - auch wenn es laut Prognos & Fans "familienfeindlich" ist, so wär's doch offensichtlich besser, das für staatliche Verwahranstalten verwandte Steuergeld direkt den Familien zukommen zu lassen bzw. von denen gar nicht erst abzuschöpfen.

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  12. ich finde, die tendenz ist unbezweifelbar. die frage ist nur: liegt es an der überbemutterung durch vater staat? oder an anderen dingen?

    in heidelberg liegt es sicherlich daran, dass dort haufenweise junge frauen sind, die anderes tun als kinder kriegen. weil sie studieren. das kann man ja auch verstehen.

    die karten sind aber aus meiner sicht gerade deshalb so gut, weil sie diese kleinen sondereinflüsse wegbügeln (scheiß auf die jahreszahl, die fakten sind doch heute genauso) und einen zusmamenhang quasi als negativ zeigen: wenn es schon nicht daran liegt, dann scheitn es doch auch nichts grundlegendes zu bewirken

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  13. Danke erstmal an nwr für die konkreten Zahlen.

    Ich glaube, der Schlüssel zum Verständnis der Zahlen liegt mal wieder in der Vergangenheit.
    Hier meine Sicht der Dinge:


    In der DDR herrschte Knappheit an Arbeitskräften. Naja, angeblich, aber das ist eine andere Geschichte. Also wurden die Frauen aus der Hausfrauenrolle in die Produktion gehebelt. Um das tun zu können, wurde eine flächendeckende Kinderbetreuung installiert.

    Frauen wurden also ausgebildet und gingen selbstverständlich arbeiten, und das ist heute noch so.
    Hausfrau ist kein Beruf oder berufung, sondern Faulheit. Das sagt man nicht laut, es kommt aber unterschwellig so rüber.

    Durch dieses Überangebot von Arbeitskräften sinkt natürlich der ohnehin schon schmale Lohn so weit, daß wirklich beide arbeiten gehen müssen. Zusätzlich nimmt man sich auch noch in Punkto Kinder zurück, weil zu viele davon (also mehr als eins) zu dolle am Budget knabbern.

    Alles nochmal grob und in Kurzform:

    Kinderfremdbetreuung macht, daß mehr Frauen arbeiten gehen. Das macht, daß zwei zum Lohn von einem arbeiten _und_ keine Zeit für weitere Kinder haben.

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  14. @vakna
    Oder: Wo mehr Mütter in der Produktion sind, gibt es einen größeren Bedarf an Kinderfremdbetreuung. Mütter in der Produktion sind aber gegenüber Müttern am Herd weniger gebärfreudig, lassen sich schneller scheiden, halten sich lieber Hunde als Kinder...

    Gerade für die Feststellung: "Wo die wenigsten Kinder, dort ist die höchste Betreuungsquote einfach umzusetzen", bietet sich die zeitliche Divergenz beider Karten sogar an, denn Betreuung richtet sich schließlich an bereits geborene Kinder.

    Man hätte die Geburtenkarte auch mit Karten der Scheidungen oder der Single-Haushalte oder der Haushundquote vergleichen können - die Tendenz wäre immer erkennbar: Wo es traditionelle Familienstrukturen gibt, ist die Geburtenrate am höchsten. Südländer mit traditionellen Familienstrukturen können übrigens auch familienfreundlich sein.

    Vorrangig ging es im nwr-Beitrag auch um die perfide Deutung einer "Familienfreundlichkeit" in der Prognos-Karte bzw. im SPIEGEL. Denn nach der wäre es dort, wo es die meisten traditionellen Familien gibt, für Familien am schlimmsten.

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