Mehr als hundert Jahre marschierte man Seit an Seit mit den sieggewohnten Partnerparteien aus Ägypten und Tunesien, man teilte die Träume von einer gerechten Gesellschaft, die Vision einer friedlichen Welt, die Vorstellung von einer Überwindung des kapitalistischen Systems. Jetzt aber hat SPD-Chef Sigmar Gabriel mit der Sozialistischen Internationale gebrochen und einen Ausschluss seiner Partei aus dem einst von Willy Brandt geführten Verbund der sozialdemokratischen Parteien gefordert.
Der 1889 gegründete globale Verein von mehr als 160 sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien müsse jene Mitglieder ausschließen, "die einst als Freiheitsbewegung begonnen haben und längst von diesem Weg abgekommen sind", schrieb der ehemalige Pop-Beauftragte der deutschen Sozialdemokratie in der "Frankfurter Rundschau". Nur eine "Totalreform oder gar Neugründung" könne die Sozialistische Internationale retten.
Gabriel reagiert damit auf den Aufstand der Menschen, "die in Tunesien, Ägypten und Libyen gegen ihre Despoten aufbegehrt haben und das wichtigste Menschenrecht für sich" forderten: "Sie wollen ihr Leben selbst bestimmen, und sie wollen sich nicht länger bieten lassen, dass ihre Bürger- und Menschenrechte gegen vermeintliche Stabilität und Rohstoffsicherheit aufgerechnet werden". Das sei der "Beweis, dass der Wunsch nach Freiheit, Demokratie und einem selbstbestimmten Leben auf keine Region, Religion oder Kultur beschränkt ist", dass also die im Heidelberger Programm der SPD formulierte These, dass die Arbeiterklasse das Gesamtinteresse der Gesellschaft gegenüber dem kapitalistischen Monopol vertritt, indem sie für ihre eigene Befreiung kämpfe, mehr denn je zutreffe.
Vom Heidelberger Programm aber habe sich die SPD seinerzeit in Bad Godesberg abgewandt. Statt weiter für die Befreiung des Menschen von der Ausbeutung durch den Menschen zu kämpfen, habe seine Partei sich mit dem System arrangiert. Ein ehemaligen Parteivorsitzender habe Menschen aus anderen Ländern mit Tiervergleichen belegt, ein anderer die Ärmsten der Armen um das kleine Häppchen bisschen gebracht, das ihnen nach Abzug aller Lebenshaltungskosten noch geblieben sei.
Der scheidende SPD-Chef plädierte angesichts der Situation, in der sich seine Partei nunmehr befinde, für "radikale" (Gabriel) Lösungen. Zwar benötige die deutsche Volkswirtschaft "Rohstoffe, offene Verkehrswege und Absatzmärkte" und man könne sich "die Regierungen nicht aussuchen, mit denen wir verhandeln" Doch die Verantwortung "eben nicht nur für die eigenen Bürger, sondern auch für unseren Umgang mit allen anderen Menschen in dieser Welt" erfordere es, dass "unsere wirtschaftlichen Beziehungen zu Diktaturen nie wieder das Maß an Normalität erreichen, das sie in Nordafrika und anderswo bereits hatten". Aus seiner Sicht hätte die SPD nie Kontakte zur SED aufnehmen dürfen, auch der Besuch von Willy Brandt bei den Ost-Diktatoren sei "wenig hilfreich" gewesen.
Kein Zweifel ist mehr möglich: Sigmar Gabriel plädiert für einen sofortigen Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen zu Staaten wie China, Kuba, dem Iran, Saudi-Arabien, Simbabwe, Usbekistan, Libyen, Pakistan, Laos und Weißrussland. "Im Zweifel für die Freiheit und gegen Unterdrückung", ruft der Arbeiterführer, der es für einen Skandal hält, "dass die Finanzwelt jetzt höhere Zinsen von den jungen Demokratien fordert als zuvor von den Diktaturen".
Gerade die ägyptische Militärdemokratie, aber auch das junge demokratische Tunesien, von dem man derzeit nicht wisse, wer es regiere, müssten "günstigere Konditionen" bekommen und von Investitionen von europäischen Unternehmen überschwemmt werden. Die SPD werde mit ihrer Immobiliengesellschaft Konzentration GmbH voranschreiten und Mietwohnungen in Kairo und Tunis kaufen. Auch Tripolis sei im Fokus, sobald dort noch mehr Unsicherheit herrsche. "Unsere Botschaft muss lauten", schreibt Gabriel an seine Anleger, "Demokratie: Jetzt investieren!"
Die Sozialistische Internationale aber könne dabei kaum helfen. "Die Organisation ist erstarrt in Formalien und besitzt kaum Strahlkraft", beklagt Gabriel einen fundamentalen Unterschied zur deutschen SPD. Die habe anfangs festgehalten am Ziel der "Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum", wie es das Heidelberger Programm forderte, und dabei auf die "immer größer werdende Zahl der Proletarier und den immer schrofferen Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten" gesetzt, die einen "immer erbitterteren der Klassenkampf zwischen den kapitalistischen Beherrschern der Wirtschaft und den Beherrschten" zu Folge hatten. Später sei man dann aber mit dem Godesberger Programm leider von diesem konsequenten Weg der Befreiung abgekommen und habe mit der Schillerschen Formel „Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig!“ Abschied genommen von den Träumen der Gründer. Aufgabe der staatlichen Wirtschaftspolitik sollte es danach nur noch sein, Wohlstand durch vorausschauende Konjunkturpolitik, weitere Beeinflussungen des Marktgeschehens hätten jedoch zu unterbleiben, denn „freier Wettbewerb und freie Unternehmerinitiative sind wichtige Elemente sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik“.
Eine Vergesellschaftung der Industrie wurde als Ziel gestrichen, Fortschritt allein sollte nach dem Godesberger Programm Wohlstand für alle bringen. Ein Irrtum, wie Sigmar Gabriel in seinem neuen Grundsatzpapier festlegt. "Wir deutschen Sozialdemokraten werden für diese Form der internationalen Kumpanei nicht zur Verfügung stehen", sagt er. Stattdessen werden man daran gehen, die Sozialistische Internationale gemeinsam mit deren zuletzt zunehmend untätigeren Chef Giorgos Papandreou zu reformieren. Die neue Sozialistische Internationale müsse Ende des Jahres erste Konturen haben, denn sie werde dringend gebraucht, mahnt Gabriel. "Sozialdemokraten aus aller Welt müssen dort ihre Antworten finden", regt er. Die Globalisierung werde dann endlich "ein neues Ziel" haben: "Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle – statt Reichtum für wenige".
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