Dienstag, 28. Dezember 2010

Der Arzt, dem die Arbeiter vertrauten

Die ganz alten, noch in der DDR domestizierten Mitglieder der Informationsgesellschaft erinnern sich, als wäre es gestern gewesen. Damals hießen Verweigerung und Widerstand noch nicht 21, sondern 465 - Montagmorgen zum Arzt statt in die Werkhalle, das war, so beschreibt der Berlinpankowblogger in einem stimmungsvollen Beitrag, das Nonplusultra der Systemkritik.

Sanitätsrat Doktor Appel half dabei all jenen, die von normalen Ärzten und Medizinern nicht mehr behandelt wurden. Weil ihre sogenannten SV-Hefte voll waren. Denn Widerstand wurde in der Bürokratie des DDR-Sozialismus schnell aktenkundig: Viermal sonntags saufen, viermal montags zum Arzt - und schon erkannte der in einem schwerkranken, dem Tode nahen jungen Menschen nicht mehr den hilfsbedürftigen Patienten, der einen Krankenschein benötigte, sondern den Staatsfeind.

Wer heute Hymnen auf das DDR-Gesundheitswesen singt, hat nie bei der Ärzteberatungskommission gesessen, bei der alle landeten, die einmal zu viel krank geworden waren. Alle anderen erinnern sich zumindest dunkel an die grauen Morgendämmerungen im S-Bahn-Tunnel am Bahnsteig Richtung Heide, wenn sich alle versammelten, die mühselig und beladen waren und einfach eine Pause brauchten vom tätigen Mitwirken am Aufbau des Sozialismus.

Tragisch für Betroffene wie den Berlinpankowblogger: Das Metalleichtbaukombinat Werk Halle machte irgendwann kurzen Prozess mit dem Arzt, dem tausende junger Facharbeiter vertrauten. Vom Februar 1984 an war es vorbei mit dem Krankenschein auf Bestellung. Schluss mit „Kasse machen“, mit Zusatzurlaub, mit schönen Auszeiten, mit Ausschlafen nach durchzechten Nächten, nach langen Partys oder einfach nur so. „Krankenscheine von Sanitätsrat Appel werden in diesem Betrieb ab sofort nicht mehr anerkannt“, stand da auf dem schwarzen Brett im Eingangsbereich zwischen Pförtnerhäuschen und Kantine.

Das Aus für den Arzt für alle Fälle.

Appel, das war aber nicht nur ein Arzt. Eigentlich war es gar kein Arzt. Wer wirklich krank ist, sollte nicht zu Appel gehen, sagte man damals. Wer aber einen Krankenschein brauchte, egal, ob für einen Tag oder eine ganze Woche, oder gar für bereits vergangene Tage, der war bei Sanitätsrat Appel im Halle-Dölauer Goldammerweg genau richtig. Sein Motto hing denn auch unübersehbar in einem Bilderahmen in seiner Praxis: „Der Schnuppe und der Hust, zur Arbeit keene Lust“. Der Name war Programm. Jeder, der die Praxis betrat, ging garantiert mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hinaus. Häufigste Diagnose: 465 – der Diagnoseschlüssel für „Akute Infektion der oberen Atemwege“. Als Behandlung empfahl der verknitterte kleine Mediziner regelmäßig "Hunger ist der beste Arzt".

Wegweisend für das Gesundheitswesen heute, existenzbedrohend für den Sozialismus in der Chemiearbeiterstadt Halle. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen von Appel stapelten sich in den Personalabteilungen, die Planerfüllung des sozialistischen Wettbewerbes geriet akut in Gefahr. Warum die Geschichte aufflog und der beste Helfer aller Arbeitsscheuen mit Acht und Bann belegt wurde, erzählt Appel-Patient BPB so: "Einige Stammkunden des Sanitätsrates hatten seine Praxishilfe, eine mächtige Schwester guten Gemütes, überreden können, ihnen Blanko-Krankenscheine auszuhändigen. Ordentlich abgestempelt und unterschrieben. Nur eben noch ohne Datum und ohne Diagnoseschlüssel. Einer der Lehrlinge soll nun eines Tages, Anfang 1984, mit solch einem Schein auf Arbeit erschienen sein. Er gab gegenüber seinem Lehrmeister an, sich beim Schweißen die Augen verblitzt zu haben. Was so ziemlich jeden Tag einmal vorkam. Also für jeden Lehrmeister nachvollziehbar. Nur leider hatte jener Lehrling den Diagnoseschlüssel verwechselt, den er ja selbst eingetragen hatte. Statt der 378 (sonstige Krankheiten des Auges), hatte er die 388 eingetragen. 388, der Diagnoseschlüssel für Taubstummheit.

Mehr Schlüsselnummern für mehr Krankheiten hier

1 Kommentar:

  1. Was habe ich gelacht. Und dabei wollte ich meiner Wessi-Lebensgefährtin doch nur die Bedeutung eines "465ers" erklären.
    Als ehemaliger Lehrling der BBS "Ernst Thälmann" im jetzigen Heide-Nord kenne ich die Patienten des Herrn Dr. Appel natürlich zur Genüge. Quasi alle meine Mitlehrlinge aus Halle und Halle-Neustadt standen bei ihm nach durchzechten Schorre-Wochenenden auf der Matte.
    Ein Bandscheibenvorfall im zarten Alter von 14 war aber faktisch ein Freibrief für regelmäßige Krankschreibungen, ohne dabei jemals auf Dr. Appels "Kundenfreundlichkeit" angewiesen war. Normale Ärzte mit lupenreinem Ruf attestierten mir brav Rücken- und Beinschmerzen.
    Im Grunde war aber die ganze Lehrzeit wie Urlaub mit Freunden. Wer macht da schon Kasse? Wir saßen unsere Stunden im Unterricht ab, lungerten in den Pausen auf dem Schulhof rum oder beklauten den kleinen Kiosk in der Siedlung nach Strich und Faden. Irgendwann wurden Lehrlinge oder Leute, die so aussahen... der einfacheren Überwachung wegen nur noch in 3er-Gruppen in den Laden gelassen, was das Klauen von Schlager Süßtafel und Pfefferminzlikör nur spannender und komplizierter gestaltete, jedoch nicht verhindern konnte. Kann ich mich an dieser Stelle bei der HO entschuldigen? Wir waren jung, brauchten den Kick.
    Für's Verblitzen der Augen gab's bei meinem nur wenige Wochen dauernden Gastspiel im Waggonbau Ammendorf einen einfachen Trick. Fit.... ein heute noch in Westdeutschland unter dem Namen PRIL verkauftes Geschirrspülmittel... in die Augen geträufelt läßt diese kurzzeitig erröten. Dieses Zeitfenster nutzt man dann zum Gang zum Arzt des Vertrauens. Die Augen erholen sich vergleichsweise schnell und man wiederholt die Prozedur einfach kurz vor der Nachuntersuchung.
    30 Jahre später. DDR weg. Appel weg. Gemütlichkeit weg. Eine Krankschreibung habe ich aber bisher dennoch immer bekommen, wenn ich etwas ausgelaugt... sorry... outgeburnt war.
    In diesem Sinne.. seid bereit - immer bereit!

    B.R. aus Halle

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