Es gibt Bücher, die muss man lesen, und Bücher, die muss man nicht gelesen haben, jedenfalls nicht, wenn man darüber sprechen will. Eines von der letzten Art hat jetzt der frühere Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin geschrieben: "Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen" ist noch nicht erschienen, aber schon überall als völlig missraten erkannt.
Drei vorabgedruckte Halbkapitel in einer Boulevardzeitung und die Bereitschaft eines ehemaligen Nachrichtenmagazins, dem längst als eiskalter Salonfaschist enttarnten Sozialrevolutionär der Auflage wegen doch wieder ein Podium zu bieten, reichen sagenhaften 330 deutschen Zeitungen, Zeitschriften, Fernseh- und Radiosender, das volle Programm abzurufen. Dämlich", "Hasstiraden" und "Polemik" schallt es aus allen Ecken. Wer das liest, ist dumm! Jeder, der nicht mehr als den erweiterten Klappentextes des 464-Seiten-Buches kennt, hat eine Meinung zu dem, was er nicht gelesen hat, und wohl auch nicht lesen wird, wenn er seinen eigenen Empfehlungen folgt.
Der Arbeiterführer Sigmar Gabriel surft die Empörungswelle pflichtbewusst ganz vorn, nachdem die Parteizeitung "Vorwärts" bei der Nichtlektüre des Buches "plumpe, üble Stimmung machende ausländerfeindliche Parolen" entdeckte. Auch er hat natürlich weder das Buch selbst gelesen noch irgendetwas, was irgendwer geschrieben hat, der mehr als den Klappentext kennt. Aber er legt Sarrazin natürlich den Parteiaustritt nahe wie immer. Das kann Integrations-Staatsministerin Maria Böhmer nicht, denn die ist in der CDU, sonst aber einig mit Gabriel: "Scharfe Kritik an Sarrazins Thesen zu Migranten" ist immer geboten, auch wenn man die eine Woche vor Buchveröffentlichung in ihrer Gänze nicht kennen kann. Es reicht die Vermutung der immer hellwachen "Zeit", die auch nichts gelesen hat, aber doch davon ausgeht, es könne sich bei "Sarrazins Thesen" um "absurde Ergüsse" (Zeit) handeln.
Jaja, "Thilo Sarrazin hat ein Buch geschrieben und muss es jetzt verkaufen", gibt sich der Rezensent der Frankfurter Rundschau gelassen, der das Buch auch noch nicht kennt, aber doch irgendwie mit den anderen loshufen muss, um es rechtzeitig vor dem Erscheinen nicht zu empfehlen. Die ersten Single-Auskopplungen reichen natürlich allemal für einen Verriss, gäbe es sie nicht, würde man einfach was über Sarrazin ansich, seine Frisur oder seinen Hund schreiben. Selbst die paar aus den Vorabdrucken bekannten Zahlen und Fakten, auf die sich Sarrazin beruft, müssen deshalb gar nicht mehr geprüft werden. Egal, ob sie stimmen oder nicht, sagt der Berliner SPD-Landesvorsitzende Michael Müller: Sie hätten sowieso überhaupt nichts mit demokratischer Politik zu tun.
Recht hat, wer gehört wird! Und Demokratie, "Was Du draus machst". In dem Fall ist das die Legion der Sarrazin-Kritiker, denn auf die berufen sich die moralischen Instanzen der Republik, die das Buch selbst auch nicht gelesen haben. Der Zentralrat der Juden empfiehlt, Sarrazin solle in die NPD eintreten, der Migrationsrat Berlin-Brandenburg protestiert gegen einen geplanten Auftritt des Bundesbankers beim Internationalen Literaturfestival im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Noch kenne man das Buch nicht, komme aber Sarrazin dennoch, um es vorzustellen, werde die ganze Lesung abgesagt.
Lest nicht bei denen, die anderer Ansicht sind!, fordert der Migrationsrats ein klares Bekenntnis zum Meinungsstreit ohne Andersdenkende. Vermutlich teile der ehemalige Finanzsenator die Gesellschaft in seinem Buch nämlich in „erwünschte“ und „unerwünschte" Mitglieder, auch gehe man zuversichtlich davon aus, dass er wohl „apokalyptische Bedrohungsszenarien“ entwerfe und „Hetze gegen muslimische Migranten und Migrantinnen" betreibe. Nur noch fünf Tage, dann ist das Buch des "bekennenden Rassisten" (Zitate aus dem Protestschreiben des Migrationsrates) wirklich zu haben. Jetzt schon steht einsam an der Spitze der Vorbestellungsliste bei Amazon.
Noch können sie ja alle ihrer Phantasie freien Lauf lassen, solange das Buch nicht erschienen ist. Wenn es in den Regalen steht, muß man sich (oder auch nicht) an die aufgeschriebenen Sätze halten.
AntwortenLöschenMomentan projezieren sie also ihre eigenen verqueren Auffassungen und Ideologien in Sarrazin hinein. Ab Erscheinungsdatum müßten sie ihm beipflichten. Und das geht natürlich nicht in der aufgeweckten Mediendemokratie.
Dann lieber vorab die eigene Meinung unter dem Deckmäntelchen Sarrazins verhökert, um später sagen zu können, wie Recht man doch hatte, daß der so ein verkommenes Subjekt ist.
absolut zutreffende analyse, ich denke auch, dass es sich genauso verhält. wenn es soweit ist, ist das thema allen mediengesetzen zufolge durch, dann beginnt die phase des totschweigens dessen, was man eigentlich bereden müsste
AntwortenLöschen„fordert der Migrationsrats ein klares Bekenntnis zum Meinungsstreit ohne Andersdenkende“
AntwortenLöschenSchön. Allein dafür lohnt es PPQ zu lesen.
Hier kann man lesen, was der „bekennende Rassist“ vorab sagte:
http://img842.imageshack.us/img842/1263/sarrazinspiegel.jpg
@Anmerkung:
„oder auch nicht“ trifft zu
Halte das Buch gerade in den Händen, Amazon sei Dank. Schon die ersten dreissig Seiten verschlungen, und mir fällt folgendes ein:
AntwortenLöschen- Sarrazin ist intelligent, und schreibt auch so. Selbst ein durchschnittlicher Journalist braucht eine Woche Vollzeit, um das Werk zu lesen und zu verstehen. Da oftmals Rezensionsexemplare im Vorab versendet werden, kann es _möglich_ sein, dass einige das Buch schon gelesen haben.
- Aber verstanden haben sie es nicht. Was Sarrazin schreibt, ist - wie er selbst darlegt - direkt, unverblümt und nicht jedem gefällig.
- Wer jetzt laut schreit (und das sind ja meist schwer arbeitende Politiker, die sich nur einen Abriss haben vorlegen lassen) will nur seine Pfründe schützen und die eigene Unfähigkeit beim Lösen der im Buch angesprochenen Probleme kaschieren
- Ob Sarrazin in allem Recht hat oder nicht, sei egal. Er ist einer der wenigen, der zum Denken anregt. Leider gehört vor das Denken das Lesen und Augen öffnen.
Kann das Buch nur empfehlen!
Auch ich kann mein Buch nur jedem Empfehlen.
AntwortenLöschen@Anonym
AntwortenLöschenDoch, doch, die haben es verstanden. Deshalb die Wutanfälle.
@Pseudo-Sarrazin
Du bist ja sooo schlau.
Darf ich noch mal?
AntwortenLöschenDanke
Ich habe überlegt, ob ich mich (als Antwort auf den sich selbst für unwahrscheinlich intelligent haltenden Pseudo-Sarrazin) hier als Petra Pau vorstelle und ein paar kluge Worte spreche.
Hab´s gelassen, man muss sich ja nicht auf das rote Niveau begeben.
Trotzdem PPQ, Du löschst ja hier die Werbemails der braunen Sozialisten, bitte tu den Pseudo-Sarrazin raus!
Nebenbei,
manchmal geschehen Zeichen und Wunder. Die taz lässt manchmal gescheite Kommentare durch (25.08.2010, 03:10 Uhr)
http://www.taz.de/1/berlin/artikel/kommentarseite/1/die-spd-muss-sich-abgrenzen/kommentare/1/1/
@VolkerStramm: Ach komm, unser Pseudo-Sarrazin dient doch eher zur Belustigung. Oder gibt es andere Meinungen?
AntwortenLöschenVolkerStramm hat gesagt...
AntwortenLöschen„fordert der Migrationsrats ein klares Bekenntnis zum Meinungsstreit ohne Andersdenkende“
Ich habe im Eilfluge "Meinungsfreiheit ohne Andersdenkende" gelesen und fand diese Parabel eigentlich noch fetziger.
naja, der Meinungsstreit ohne Andersdenkende ist ja letztlich der erste schritt hin zu einer kompletten Meinungsfreiheit ohne Andersdenkende.
AntwortenLöschenalso ich finde den sarrazin, von dem ich denke, dass er der echte ist (darauf lässt die intelligente syntax schließen) lustig. er bereichert die diskussion, was die npdler nicht tun.
AntwortenLöschenich verweise in dem zusammenhang nochmal auf die umstände: 1. parteienwerbung gibts hier nicht, schon gar nicht, wenn strunzdumm.
2.) haben die uns mehrmals artikel geklaut und auf ihren schwarzweißroten parteiseiten eingebaut. okay, wir machen das auch. aber wir sind auch keine partei, die ordnung und gesetzestreue propagiert.
3.) gibt es - einige wissen das - inzwischen mehrere "ppq"-blogs, die von mehr oder weniger irren npdlern und sonstigen homebrew-faschisten eingerichtet wurden, um von unserem einmalig starken markennamen (im letzten ranking direkt hinter rocka cola und kugel) zu profitieren. was die schreiben, beleidigt allerdings die benutzten buchstaben, wenn sich einer der stammleser für ein beispiel interessiert, schickt ne mail, dann sende ich mal einen link.
erwarte da bitte niemand aus demselben hintergrund wohlwollendes willkommen hier.
@PPQ
AntwortenLöschen"von dem ich denke, dass er der echte ist".
Das wäre aber eine komplexe Ironie, ich weiß dass Du weißt dass ich weiß dass ...
die moralphilosophin juliane werding hat die unendlichkeitsaspekte der konflikttheorie ja mal endgültig auf den berüchtigten punkt gebracht: wenn du denkt, du denkst, dann denkst du nur du denkst
AntwortenLöschendaran kommt nun leider niemand mehr vorbei
nur,
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