Sonntag, 16. Mai 2010

Provinz der Peinlichkeit

Das Festbankett eine Würstelbude, die Sektkelche aus der Zeltplatzgeschirrabteilung, die Ehrentribüne aus Kistenbrettern genagelt und das Finalstadion ein Dorfbolzplatz: Wenn der Fußballverband Sachsen-Anhalt alljährlich zum Endspiel um dem Landespokal ruft, ist Zuschauervermeidung seit Jahren schöne Tradition. Der Vorverkauf für den selbstgemachten Höhepunkt des Fußballjahres im westlichsten der östlichen Bundesländer wird in der Regel frühestens am Vorabend des Spieles gestartet, als Austragungsort wählt man in enger Zusammenarbeit mit den staatlichen Schutz- und Sicherheitsorganen entweder das Heimstadion des stets gesetzten Veranstaltungsteilnehmers aus Magdeburg. Ist der aber nicht mehr im Wettbewerb vertreten und lässt sich die verhasste Begegnung trotzdem nicht absagen, schweift der Blick der Funktionäre weit übers Land. Und bleibt, zumindest in diesem stolzen 20. Jubiläumsjahrgang des Pokals, am Fuße der Abraumhalden bei Sangerhausen hängen: Hier steht mit dem "Friesenstadion" ein Veranstaltungsgelände mit dem Prunk des nie gebauten nepalesischen Nationalstadions. Fünfstufige Tribünen und begrünte Erdwälle um das Spielfeld künden von begeisterter Provinzialität, zur Feier des Tages aufgestellte Drahtverhaue und Polizeihundertschaften von sorgfältigster staatlicher Planung und Leitung.

Drei Einlasspforten führen in die ehrwürdige Heimstätte des VfB Sangerhausen, alle drei sind schon eine Stunde vor Beginn des Endspiels zwischen dem durch fehlerhafte Absprachen bis hier geratenen Fünftligisten Germania Halberstadt und dem Stammfinalisten Hallescher FC dicht umlagert. Obwohl der Verband versucht hatte, den Austragungsort des Finales diesmal bis zum Anpfiff ganz geheim zu halten, muss mit nahezu 3500 Zuschauern gerechnet werden - hierzulande absolut ausreichend, um die Fußballinfrastruktur in ihren Grundfesten zu erschüttern. Die Lautsprecheranlage etwa kämpft mit acht oder neun Dezibel Schalldruck vergebens gegen das Knattern der mitgebrachten Fanfähnchen an. Selbst die mit einem großen Sinn für Absurdes vor Anpfiff gespielte Nationalhymne geht im Stiefeltrappeln der pünktlichen einmarschierenden Polizeikohorten unter.

Sportlich macht der Favorit aus Halle, der sich mühevoll hierher spielen musste, nach fünf Minuten alles klar. Nach einem langen Diagonalball des A-Junioren Benjamin Knaack auf Stürmer Thomas Neubert spekuliert die Halberstädter Verteidigung einen Moment lang auf Abseits. Neubert, sonst kein Mann für einfache Tore, schießt den Ball ins Netz.

Halberstadt würde danach gern antworten, findet aber keine Worte. Halles Spieler hingegen scheinen verabredet zu haben, dass sowohl Torwart Darko Horvat als auch die beiden Innenverteidiger Adli Lachheb und Patrick Moyaya den Ball berühren müssen, ehe er die eigene Hälfte verlassen darf. Meist gehen alle drei auf Nummer sicher und berühren ihn gleich mehrmals.

Das gibt dann ein Spiel, das sich den äußeren Umständen idealtypisch anpasst. Die Sonne scheint, das Ergebnis stimmt, doch das Vergnügen hält sich in den engen Grenzen der Baustellenzäune, die ein Ambiente zaubern, gegen das ein Gefängnishof ekstatische Allianz-Arena-Atmosphäre verströmt.

Wenigstens ist dann gleich Pause und nach Wiederanpfiff versucht der HFC, allen möglichen Kümmernissen aus dem Weg zu gehen. Jan Benes erobert den Ball an der Mittellinie, läuft bis auf Strafraumhöhe durch, passt nach innen und dort steht Nico Kanitz, der die dritte richtige Chance der passend im traurigem Auswärtsschwarz aufgelaufenen Rot-Weißen zum zweiten Tor verwandelt.

Die winzige Tribüne, errichtet noch mit zweckentfremdeten Staatsplanmitteln zum Modernisierung des Kupferbergbaus der DDR, trommelt und qualmt jetzt wie das Giuseppe-Meazza-Stadion. Der Bauzaun wankt und wackelt, HFC-Präsident und Co-Trainer eilen herbei, um auch vom Anhang Ruhe und Disziplin einzufordern.

Die sind auf dem Platz allerdings dahin, auch weil wohl niemand Jan Mutschler gesagt hat, dass selbst der FCM-Fanklub in der Verbandschefetage damit rechnet, dass der HFC gewinnt. Der Rotschopf spielt auf den linken Halberstädter Seite, als wirkten die peinlichen äußeren Umstände auf ihn motivierend wie eine knallvolle Schalke-Arena. Nach dem 2:0 bleibt Halle zwar aktiver als in der ersten Halbzeit, Neubert, Lachheb und Finke haben sogar Chancen, die Führung auzubauen. Aber das Tor macht der Zählkandidat aus dem Vorharz: Langer Einwurf, der wird zu kurz abgewehrt, der Ball fliegt an den langen Pfosten, der beste Halberstädter zieht trocken ab. Anschlusstreffer.

Plötzlich wackelt der Favorit wie die Zäune vor der Fantribüne, die nur noch stehen, weil sie der HFC-Präsident inzwischen mit Blicken festnagelt. Den Aufstieg hat der HFC zuletzt vor allem in den schwachen letzten drei, vier Spielminuten versiebt, wenn knappe Führungen wie programmiert verloren gingen. Das ist hier auch wieder so: Der aus dem Pleistozän des Digitaluhrenbaus stammende Stadionwecker zeigt die 89. Minute, als Halberstadts Eggert den gar nicht mal mehr unverdienten Ausgleich markiert.

Verlängerung? Elfmeterschießen? Nicht, wenn es nach Halberstadt geht. Die Harzer stürmen weiter, zum Glück für die eben noch mit betretenen Gesichtern zum Mittelkreis stiefelnden Hallenser. Phillip Schubert, mal wieder im Mittelfeld aufgeboten, tankt sich bis in den Strafraum durch, mehr vom Willen getragen als von den eigenen Beinen. Im Stürzen schiebt er den Ball in Richtung Elfmeterpunkt, dort steht Toni Lindenhahn, eingewechselt für den Vielflieger Angelo Hauk. Und der 19-Jährige, neben Stark und Knaak der dritte Hallenser im halleschen Team, schießt den Ball durch die Beine von Halberstadts Keeper Kischel ins Tor.

Rote Karte noch für Saalbach, dann flüchten die Ordner wie auf geheimen Befehl, der Zaun kippt und aus der pyrotechnischen Rauchwolke stürmt das Fanvolk den Platz. "Wir wollten die Siegerehrung eigentlich auf dem Rasen durchführen", flüstert die Stimme eines vermutlich führenden Fußballfunktionärs leicht beleidigt durch die Leissprechanlage, "aber das geht ja nun nicht mehr."

Plan B ist offenbar keine Zeremonie im Stil der Pokalvergabe beim Finale in Berlin. Die Provinz kommt - auch zum Erstaunen der Halberstädter - ohne Konfettiregen, Feuerwerk, Feierlichtkeit und Würde aus. Die Aushändigung von Medaillen und Pott wird schnell im Kabinengang abgewickelt. So ist die Zeremonie sicher vor neugierigen Blicken. Ab und an reckt sich danach ein Spielerarm aus dem Gewühl nach oben, in der Hand einen echten Pokal, abgeschirmt durch Einsatzkräfte im Demo-Vollschutz. Markus Müller kräht trotzdem ein "Uffta", die Mannschaft tanzt, der Präsident grinst zufrieden. Im August droht Sachsen-Anhalts Sicherheitsorganen nun vielleicht ein Pokal-Gastspiel von Bayern, Dortmund oder Schalke. Mit anderen Worten: Fußball mit Zuschauern. Wird aber schön diesmal, denn Halle hat ab kommendem Wochenende kein Stadion mehr. Gespielt werden muss also in Leipzig. Innenminister und Fußballverband werden sich ein Sektchen darauf gönnen können.

Update: Der Gebührenfunk hat nur drei Tage gebraucht, um das Thema zu entdecken.

8 Kommentare:

  1. Gustav FröhlichMai 16, 2010

    lieber herr ppq..

    ich mußte mir das pokalfinale per fanradio (mit krümmel) und liveticker antuen..

    als ausgleich durfte/mußte ich mir (per fanradio) die ergüsse der beschallungsanlage erleben..ich hatte plötzlich so einen bammel vor der verlängerung, daß es mir schon fast egal war, wer in der regulären spielzeit noch den siegtreffer erzielt..

    danke für den schönen text..

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  2. "Philipp Schubert, erst zum zweiten Mal in dieser Saison im Mittelfeld aufgeboten, tankt sich bis in den Strafraum durch, mehr vom Willen getragen als von den eigenen Beinen."
    Philip mit einem P (am Anfang und Ende des Namens) spielte im Pokalhalbfinale, am 1., 2. und 32.Spieltag mit Steve auf der Doppel-6. Am 3. und 4.Spieltag wurde er als 6er eingewechselt. Es war also mindestens sein fünftes (eigentlich siebtes) Saisonspiel im Mittelfeld.

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  3. oh, den 1. und 2. hatte ich schon ganz vergessen. so lange her

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  4. und ich war fest davon überzeugt, dass dkf dir das mit dem a-junioren knaak nicht durchgehen lässt, schwächelt der beckmesser

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  5. natürlich war er, beckenbauer auch

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  6. susi sonnenschein von mein mdr hat gesagt, dass sich georg und der halberstädter trainer im kabinen gang gerangelt haben, oder so

    das ist das land der frühaufsteher

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  7. hier machen die finals deshalb auch mittags, da hammers weg

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