Sonntag, 4. Oktober 2009
Fremde Federn: Sinnieren über Sarrazin
Kann man Unwillkommenes aussprechen, ohne zu verletzen? Und sei es den inneren Frieden, die Gewohnheiten, die Gewissheiten derer, die vor allem nicht gestört werden wollen? Kann man über Verdrängtes sprechen, ohne zu verletzen? Kann man Missstände benennen, die Wahrheit sagen, ohne zu verletzen?, fragt die FAZ in einem bemerkenswerten Text, der die geheuchelte Aufregung um die Kopftuchmädchen-"Äußerungen" (Der Spiegel) des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin zum Anlass nimmt, ein bisschen grundlegender über die Frage nachzudenken, wohin dieses Land in den letzten zwei Jahrzehnten geraten ist.
Mag sein, dass man das kann, antwortet sich Volker Zastrow selbst. Aber man müsse ja gar nicht. Allerdings schwebe "unserer Gesellschaft inzwischen etwas vorzuschweben wie ein moderierter Diskurs, in dem jeder Inhalt sich der Etikette zu beugen hat. Wobei Etikette längst in Wahrheit nicht wirklich meint, wie etwas gesagt wird, sondern was. Das erkennt man daran, dass denen, die dagegen verstoßen, sofort mit dem Berufsverbot gedroht wird, dem Strafrecht gar, dass ihnen nicht widersprochen wird, sondern dass sie nicht mehr sprechen sollen. Es soll Redefreiheit nur im Rahmen dessen geben, was man hören möchte. Der Zusammenhang zwischen Redefreiheit, Meinungsfreiheit und Demokratie: den meisten scheint er gar nicht mehr bekannt. Aber auch der zwischen offenem Wort, offenem Denken, Einsicht oder gar Umkehr.
Jahre nach der großen Kulturrevolution der sechziger Jahre ist an die Stelle der geschleiften Autoritäten ein anonymer, konturenloser Schleim getreten, die verallgemeinerte Autorität, aus dem je nach Bedarf wie Formwandler Gestalten springen und Verdikte verkünden, gegen die keine Berufung eingelegt werden kann. So wird aber auch die Gedankenfreiheit untergraben, das unabhängige Urteil entmutigt.
Maß und Mitte, sagt der niedersächsische Arbeitsminister Philipp Rösler von der FDP, lasse Sarrazin vermissen, und allein durch seine Äußerungen (die Rösler im Zusammenhang mutmaßlich nicht einmal gelesen hat) habe der Exsenator „alle Integrationsbemühungen der letzten fünf Jahre“ kaputtgemacht. Wirklich nur alle? Nicht vielleicht doch ein paar mehr? Und wirklich nur der letzten fünf Jahre, nicht eher fünftausend?
„Äußerungen gewinnen immer dann ihre Dynamik, wenn sie den Kontext verlassen“, hat Sarrazin selbst einmal gesagt. „Aber ich kann doch nicht jedes Mal, bevor ich irgendetwas sage, darüber nachdenken, wie es wo ankommen könnte.“ Das aber wird verlangt. Es gilt als „politikfähig“. Politikfähigkeit durchströmt die hohltemperierte Gesellschaft wie lauwarmes Wasser, angefangen mit den Politikern selbst, sind alle politikfähig im Übermaß; wer aus der Reihe denkt, löst umgehend Alarm aus und wird ruhiggestellt.
Merkwürdig: Der Konformitäts-, Leistungs-, Anpassungsdruck in unserer aller äußeren Autorität entkleideten Gesellschaft scheint nicht schwächer, sondern stärker geworden zu sein. Das beginnt schon in der Schule, im Kindergarten, im Mutterleib, in der Petrischale, wo nur die Tauglichsten überleben dürfen. Und niemand ist verantwortlich; Instanzen, gegen die sich ein Aufstand richten könnte, gibt es nicht mehr, sie haben sich in Wohlgefallen aufgelöst. Wehe, wenn da einer stört.
Viel von dem, was Sarrazin gesagt hat, stimmt. Er hat es hart gesagt, grob, holzschnittartig, mitunter grausam, aber vieles davon stimmt. Man kann es auch rundweg für falsch halten; schließlich hat jeder das Recht, zu glauben, dass Berlin im Grunde keine oder nur sehr überschaubare Probleme mit seiner türkischen und arabischen Bevölkerung hat, oder falls sie doch größer sein sollten als vermutet, kann man ja auch am Starnberger See wohnen statt in Neukölln. Aber in Wahrheit werden die Zonen des Unsagbaren immer weiter ausgedehnt, wird die Redefreiheit von der Redeform abhängig gemacht, die Meinungsfreiheit konfektioniert. Ach ja, die Bundesbank. Furchtbar. Wehe. Fehlt nur noch ein Merkelwort.
Es gibt den schönen Spruch: Der Ton macht die Musik.
AntwortenLöschenSo auch hier. Mit Stammtischgeholze schafft man vielleicht Aufmerksamkeit, aber nur für die eigenen Person und nicht für die Probleme.
Sarrazin - Fail
das is ohnehin sone sache..
AntwortenLöschenhätte das n comedian/kabarettist auf der bühne gesagt häts grosses HOHO und geklatsche gegeben..weil man überspitzungen, die das satten bildungsbürgertum in ihre selbsgemachten probleme schubsen sollen, erwartet.. natürlich darf jeder auch solche stilmittel in öffentlichen reden handhaben in denen keiner soetwas erwartet.. nur muss er dann wohl mit ebenso überzogenen reaktionen leben..
thema war gar nicht sarrazin, sondern eigentlich die tatsache, dass die FAZ was beklagt, woran sie neben allen anderen medien seit jahren mitschweisst: den käfig, in den jeder gesperrt wird, der sich außerhalb einer unbestimmt wabernden und tagesaktuell jeweisl neu festgelegten "korrektheit" äußert
AntwortenLöschen@Anonym:
AntwortenLöschenWenn man dem Inhalt nichts entgegenzusetzen hat, bemängelt man die Form.
Alter Politikertrick.
@ vakna: so sieht es aus
AntwortenLöschenSarazzin ist ein Kläffer. Abgelegt dort, wo er unter Kontrolle, keinen Schaden mehr anrichten kann.
AntwortenLöschenZum Thema: Natürlich kann ich zu jemanden Arschloch sagen, weil ich mir bewusst bin, dass er eines hat. Ob das allerdings einen Sinn hat, wage ich zu bezweifeln. Weiß er es doch auch.
Nun ja, das ist halt so mit dem üblen Geruch aus dem Lloch Political Corectness. Zeigt jemand was auf, heisst das ja noch lange nicht, sich den womöglich gleichzeitig präsentierten Schlussfolgerungen zur Lösung des Übels anzuschliessen.
AntwortenLöschenDas ist Logik und führt insbesondere im deutschen Sprachraum zur Interpretation der Regel, dass von zwei einander widersprechenden Aussagen nur eine wahr sein kann zu: "...eine wahr sein muss"
Stuff
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AntwortenLöschen@ anonym: dass jemand wie sarrazin ein interview gibt, um die welt zu ändern, halte ich für ausgeschlossen. keiner von denen glaubt daran, dass ihre worte die menschen aufrütteln und auf einen besseren weg führen.
AntwortenLöschensarrazin ist aber eben auch die eitelkeit eigen, die die da oben auf der politbühne alle haben und brauchen. er gibt also ein interview, um als person bemerkt zu werden. was er dazu zu sagen hat, weiß er ja.
der rest ist eine andere baustelle. es wird ja nun nicht drüber geredet, inwiefern sarrazin recht oder unrecht hat, sondern es werden zeugen gestellt dafür, dass man das, was er gesagt hat, nicht sagen darf, völlig unabhängig davon, ob es zutreffend ist oder nicht.
das ist der skandal sarrazin - und das eigentümliche ist, dass die FAZ das ausnahmsweise auch mal bemerkt. dafür hält die deutsche medienlandschaft sich ja normalerweise nur den broder
Dass die FAZ das ausnahmsweise bemerkt kann man so nicht sagen.
AntwortenLöschenEs sind unterschiedliche Autoren.
Geyer beispielsweise ist ein Linksextremist, der am liebsten alle Andersdenkenden ins KZ verfrachten würde (so wie unser netter Anonymus auch).
Aber Zastrow ist einer, der den Titel Journalist tatsächlich verdient.
Alle seine Aufsätze sind Klasse.
Und der verehrte Anonymus sollte seinen Dreck am besten auf der Online-Leserbriefseite der ZEIT einstellen. Dort ist ihm der Beifall des linken Mobs sicher.
Alle stürzen sich auf die Türken, daß die nachgehöckert werden, faul sind, kein deutsch lernen wollen usw.
AntwortenLöschenDabei hat Sarrazin noch etwas anderes gesagt, sinngemäß, daß der Stadt Berlin eine Elite fehlt, zu der er sich zweifelsohne selber zählt. Zu deutsch, die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger der Stadt, die Machthaber, sind unterbelichtet und in ihren Funktionen und Rollen restlos überfordert.
Komischerweise regt sich darüber niemand auf, obwohl es auch eine Tatsachenbehauptung ist, der ich z.B. schwerlich widersprechen kann.
Die Betroffenen halten sich wohlweislich zurück, was die Zustandsbeschreibung ihrer eigenen species betrifft, senken den Kopf und ziehen den Schwanz ein.
Die sind heilfroh über die Steilvorlage mit dem Prekariat.
der unterschied ist aber, dass über eliten, manager, politiker jeder alles völlig hemmungslos sagen darf. manager sind nieten, politiker doof, eliten dekadent, alle zusammen saugen dem volk das blut aus - nichts davon regt irgendwen auf.
AntwortenLöschensetzten wir aber statt manager, elite und politiker begriffe wie einwanderer, zigeuner oder türken, holla, dann geht es aber ab!
Toller Artikel von dem Volker Zastrow.
AntwortenLöschen@ppq: "manager, elite und politiker" gehen schon recht gut, am "geilsten" gehen zur Zeit aber immer noch "die Nazis" ab. Wenn man in manchen Äußerungen den "Nazi" durch den "Ausländer" oder den "Juden" ersetzt, bekommt man regelrecht Brechreiz. Eigentlich ein Indikator dafür, wie vogelfrei manche Gruppen sind und daß man selbst bei aller bemühter Objektivität doch irgendwie vom Sprachmainstream befangen ist.
"das eigentümliche ist, dass die FAZ das ausnahmsweise auch mal bemerkt. dafür hält die deutsche medienlandschaft sich ja normalerweise nur den broder"
Der war gut!
Eigentlich wollte ich jetzt einen philosophischen Text auf sloterdijkschem Niveau mit Anspielungen auf safranskihafte Nietzscheriaden schreiben ... aber mir fehlt die Zeit. Deshalb kurz:
AntwortenLöschenSarrazin hat Recht ("Geltungstrieblermund tut Wahrheit kund"). Seine Kritiker sind Heuchler, Leugner und Denunzianten, die mit Hilfe von moralisierenden Scheindebatten, semantischen Tricks, gespielter Empörung und dem Strafrecht reagieren ...
... und die FAZ sollte keine Zustände beklagen, die sie selbst herbeigeführt hat.
P.S. Lustig ist es schon, das Thilo S. mit dem Buch des NRW-Ministers Laschet, wo dieser Einwanderung anhand von nicht beschäftigten ausländischen Kernphysikern und Ärztinnen beschrieb, "Schiffe versenken" gespielt hat. :-)
herold, so isses, alles
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