Auf einmal stehen sie auf der Bühne, neun Mann hoch und mindestens doppelt so breit. René Stark, amtierender Mittelfeldmotor des Halleschen FC, war als Schüler schon mal in diesem Theater, sagt er zu seinem Trainer. Aber sowas haben sie damals nicht gezeigt. "Ultras - Die Bühne gehört uns" will ein Theaterstück sein, das Realität abbildet und einen Einblick gibt in die geheimnisvolle Parallelwelt der Ultra-Fans, die sich als die Gralshüter der wahren Fußballwerte sehen. Kommerz lehnen sie ab, Sitzpublikum lehnen sie ab, Legionäre lehnen sie ab, Stadienneubauten lehnen sie ab.
Was zählt, ist nicht auf dem Platz, sondern daneben. In der Vorstellungswelt der neun Ultra-Anhänger des Halleschen FC, die auf der Bühne des örtlichen Thalia-Theaters als sie selbst agieren, ist Fußball Religion und der eigene Klub Gott. Neben Fußball gibt es nichts, außer den Fußballfreunden gilt nichts. Der Spieltag ist alles, worum sich das Leben dreht - und wer das nicht so sieht, ist entweder nicht normal oder sogar, wie die ringsum jeden echten Ultra versammelte Front aus Polizei, Politik, Medien, Funktionären und Tribünenfans, ein Feind.
Eine Rolle, in der sich Rocco, Grille, Pansen und die anderen HFC-Ultras gefallen. Unverstanden von der Welt, verachtet, verlacht, verspottet und verkannt, so ist das Ultraleben, das "kein Ponyhof" ist, wie Matze, ein dünner, langer 20-Jähriger mit Stadionverbot, stolz bekennt.
Anfangs versuchen sie im Stück noch so zu tun, als spielten sie Theater. Es wird hochdeutsch gesprochen, gewürzt mit den "Aas" und "Alter", die für gewöhnlich in der Kurve des hier nur "KWS" geheißenen Stadions gesprochen werden. Es geht um eine Auswärtsfahrt nach Frankfurt am Main, zu einem völlig sinnfreien Vorbereitungsspiel, das im Desaster enden wird. Matze wirft einen Böller, die Polizei stürmt den Block, es wird wüst geprügelt und am Ende fühlen sich die Ultras wie immer ungerecht behandelt: "Ich habe doch nur einen Knaller geschmissen", sagt Matze. Und Grille hat auch "nur einen Freund aus der Polizeiumklammerung befreien" wollen.
Es ist die Ameisen-Perspektive, aus der die in gruppendynamischen Fesseln liegenden Theater-Ultras auf die Fußballplätze der Republik schauen. Nur sie sind die wahren Lordsiegelbewahrer des wahren Fußballerbes. Alle anderen "machen unseren Sport kaputt", sind nur Spieler, denen "der Ultra-Quatsch auf die Nerven geht" oder "Erfolgspublikum - da, so lange gewonnen wird, fort, sobald es Niederlagen setzt".
Lustig werden diese dringlich vorgebrachten Weisheiten, wenn sie von Halbwüchsigen wie Börti, der seit zwei Jahren Spiele des HFC besucht, in Richtung von Leuten geschleudert werden, die seit 30 oder 40 Jahren kaum ein Spiel verpasst haben. "Acht Jahre sind wir über die Dörfer gefahren", glaubt sich Matze an die schlimmen Zeiten zu erinnern, als der traditionsreiche Hallesche FC in der fünften Liga gegen Kleckernester wie Aschersleben und Hettstedt anzutreten hatte. Diese Zeiten sind seit neun Jahren vorbei - Matze war drei, als sie begannen, und zwölf, als sie zu Ende waren.
Aber er glaubt, er liebt und er fühlt sich, als wäre er wirklich dabei gewesen. Bei allen hier geht es um solch gefühlte Authentizität, um eine geradezu talibanisch anmutende 150-Prozentigkeit, die keine Kompromisse kennt und jeden verachtet, der das anders sieht. "Die Bühne gehört uns" ist die Gelegenheit, durch ein theaterbühnenkleines Schlüsselloch hineinzuschauen in die Gedankenlandschaften einer Jugendszene, die für gewöhnlich niemanden von außen an sich heranlässt, weil sie der Ansicht ist, am Ende doch immer nur verraten zu werden. Mit einem örtlichen Fernsehsender sprechen sie nicht, weil der "immer nur nach Skandalen sucht". Mit einem örtlichen Radiosender wollen sie nicht reden, weil der Sponsor beim verhassten Verein der Landeshauptstadt ist.
Keine Schminke, kein Drehbuch, alles, was gesagt wird, ist im Rinnstein zusammengekehrt und wird nun in knapp 90 Minuten ungefiltert in den Saal geblasen, wie es in den Köpfen der Akteure brodelt: Polizisten sind Bullen und durchweg Arschlöcher. Fans des Magdeburger Konkurrenzvereins sind Bauern und allesamt dumm. Politik interessiert nicht, Schnaps schon eher. Wirklich wichtig aber ist immer nur das nächste Spiel, die Bewachung der eigenen Zaunfahne und im Gefecht mit verfeindeten Fangruppen niemals zu kneifen.
Ein Weltbild, das noch enger und fundamentalistischer ist als es der Anschein vermuten lässt. Alles hier riecht nach Testosteron, nach Männlichkeitsritualen und einem Narzissmus, der nur sich selbst kennt und über den eigenen Blick auf die Welt nicht einmal diskutieren möchte.
Ja, die jungen Männer auf der Bühne gehen arbeiten, sie gehen zu Schule, sie haben Freundinnen und Eltern. Aber sich selbst sehen sie zuallererst als Teil einer Gruppe, die sogenannte Choreos vorbereitet, lange, mühsame Fahrten zu Auswärtsspielen unternimmt und "alles für den Klub gibt", wie Rocco versichert. Er erzählt dann, wie er als kleiner Stift" hinaufgeschaut habe zu den Vorsängern auf dem Stadionzaun, die Götter für ihn gewesen seien. Heute ist der muskulöse Mann in Ballonhosen selbst ein "Zaunkönig" mit Megaphon, der seine Aufgabe so beschreibt: "Die Massen zum Mitmachen animieren". Was er dann auch gleich tut: Das ganze Theater ruft auf seinen Befehl "Chemie Halle", alles klatscht und schwenkt die Arme, völlig grundlos, den den nächsten Sieg feiert der HFC erst am nächsten Tag.
Doch Rocco, schweißnass, erlebt einen Moment, der ihn mehr mit der Nicht-Ultra-Gesellschaft da draußen versöhnen dürfte als jedes gutgemeinte Integrationsprogramm für kompliziert strukturierte Fußballfans, die es nicht schlimm finden, "Juden Jena" zu rufen, weil das immer schon gerufen wurde und "auf jeder Speisekarte Zigeunerschnitzel steht, ohne dass sich einer aufregt" (Matze).
Darf man das denken? Darf man das sagen? Nur weil "das mit den Juden das einzige ist, auf die das Jenaer wirklich allergisch reagieren", wie es im Stück heißt? Gibt es Provokationen, die zu gut funktionieren, als dass sie verwendet werden dürfen? Oder verwendet man sie - abseits von Stadionkurven und Fangesängen - nicht gerade deshalb unentwegt, egal, ob man Harald Schmidt heißt oder Rammstein, ob man ein Arbeitsamt als KZ-Tor zeigt oder einen Hit schreibt, in dem immerzu "Autobahn" gesungen wird?
Hier geht es um Fußball, aber eigentlich überhaupt nicht. Der Sport ist für Ultras Nebensache. Nur ein Anlaß, sich zu treffen, wie Hootenanny, Beat, Punk und Gruft, Atomkraft und Nato-Doppelbeschluß einst Anlaß für andere Jugend-Generationen waren, sich in Gruppen zusammenzufinden und dasselbe anzuzuziehen und dasselbe zu wollen, zu glauben und zu hoffen.
Im Publikum an diesem Abend im Theater, das weniger Theater ist als jede "Tagesschau", sitzen Dutzende erwachsener Männer, die Ultras waren, als es den Namen noch nicht gab. Auswärts gefahren sind sie damals mit der Deutschen Reichsbahn, auf Krankenschein haben sie frei gemacht, wenn der Spielplan es erforderte, und in den Tunneln unterm Berliner Alexanderplatz haben sie sich mit dem BFC-Mob Schlachten geliefert, die heute als Widerstand gegen das DDR-Regime gelten. Wie Joschka Fischer, der nach Adrenalin und Weltrevolution gierende Straßenkämpfer West, sind seine Ost-Pedants ruhiger geworden. Schmunzelnd schauen sie dem Nachwuchs zu, der auf der Bühne romantisch referiert, wie Fußball sein müsste, damit er richtig sein könnte: Ohne Red Bull und ohne Bullen, mit Platz, um über die Stränge zu schlagen, und Möglichkeiten, missverstanden zu werden, ohne dafür bezahlen zu müssen.
Theater ist das nicht, wenn Theater wirklich moralische Anstalt sein will, die über das Gute belehrt und dem Bösen zur Besseren Kenntlichkeit ein paar Hörner anklebt. Geht es aber darum, Wirklichkeit abzubilden und ein Fenster zu Räumen zu öffnen, die normalerweise verschlossen sind, ist das Stück Laientheater, das Regisseuer Dirk Laucke seine Laienspielschar als "Die Bühne gehört uns" aufführen lässt, rundum gelungen. Wie in einem Dokumentarfilm ohne Off-Kommentar darf der Zuschauern selbst urteilen, erwachsen wie er ist.
Acht Vorhänge bekommen die gegen Ende schon völlig unbefangen agierenden Mimen, die zornigen jungen Männer, eben noch beschäftigt mit einer grollenden Generalabrechnung mit der ganzen schlechten Welt, strahlen wie Honigkuchenpferde. Einer wird sich wegen der vielen Vorhänge nun Glatze schneiden lassen müssen. Hinter der Bühne singen sie dann HFC-Lieder.
Möönsch, was waren das für Zeiten in der Verbandsliga:
AntwortenLöschenVölkner im Tor, der Kneiper vom Merseburger "Südeck" übernahm das "Catering" im KWS. 96 unter Intek in der Regionalliga und Heimspiele gegen Schönebeck und Rasenplanken Amsdorf.
On man Kraftwerk noch wg. Autobahn entnazifizieren muß, weiß ich nicht. Aber eines weiß ich: Solange sicher ist, daß Rocco und Börti anders als Joschka keinen "Beratervertrag" bei BMW bekommen, beiße ich mir lieber die Zunge ab als die Ultras anzuprangern.
Im übrigen glaube ich, daß die Fanszene in Westdeutschland ein bißchen anders aussieht und sich die wirklich harten Jungs - insbesondere die älteren Semester - abseits der hier eher postmodern anmutenden Ultras bewegen.
P.S. Meuseldorf geschlagen; es bleibt spannend.
Sind die abgebildeten Typen eigentlich Schauspieler oder echt? 7/8 von denen sehen aus wie aus dem Zoo, wozu die Namen Rocco, Grille, Schim und Pansen ganz gut passen.
AntwortenLöschen"...ob man ein Arbeitsamt als KZ-Tor zeigt oder einen Hit schreibt..."
Solange man zum Hit nicht noch das ler schreibt, ist die Welt doch noch in Ordnung.
die abgebildeten typen sind die stars des stückes. liebenswerte jungs!
AntwortenLöschen@herold: so sieht es aus. aber davon wissen diese jungen superfans gar nichts mehr. naja, was wussten wir schon von den schlachten der 60er
mit autobahn war rammelstein gemeint, die verwenden das wort in ihrem neuen hitler fortgesetzt und hörbar nur aus einem grund: sie wollen alle, die dagegen sind, lächerlich machen.
da sind wir als moralpachtboard schon empört, mit verlaub