Montag, 3. August 2009

Grundrechte für den Chaosraum

Das "großartige Internet" drohe, "ein rechtsfreier Chaosraum zu werden, in dem man hemmungslos mobben, beleidigen und betrügen kann", hat Bundeszensurministerin Ursula von der Leyen neulich im Hamburger Abendblatt fantasiert. Udo Vetter vom Lawblog, im Gegensatz zur dillettierenden CDU-Frau ein Mann, der sich mit Recht und Gesetz auskennt, entgegnet der Frau, die die Welt nach ihrem Maß zuschneiden und Grundrechte nach ihrem Dafürhalten zuteilen möchte:

Mobben, beleidigen, betrügen. All das kann man im Internet tun. Genau so, wie man es im wirklichen Leben tun kann, zum Beispiel Angesicht zu Angesicht, per Brief, Fax oder Telefon. Aber egal, wie man es macht – es ist strafbar und wird verfolgt. Auch im Internet.

Ich erlebe es als Strafverteidiger Tag für Tag, wie die Polizei akribisch jeder Anzeige wegen Verletzung der persönlichen Ehre nachgeht. Neulich hatte ich den Fall, in dem jemand das Nacktfoto einer Frau im Gästebuch deren ehemaliger Schule gepostet hat. Die Polizei ermittelte aufwendig und überführte einen Ex-Freund als Täter. Das Internet als rechtsfreier Raum? Vielleicht hat der Täter dies zunächst so gesehen wie Frau von der Leyen – nach der Hausdurchsuchung dürfte sich sein Bild gewandelt haben.

Ein anderer, nicht ausgedachter Fall: Der geschmähte Liebhaber malt mit einer Schablone eine obszönen Text auf die Straße, die am Arbeitsplatz der Verehrten vorüber führt. Die Polizei ermittelt, durchsucht, findet unter anderem nicht nur die passende Farbe, sondern auch die Schablone. Der Täter wird verurteilt.

Noch heute, Monate später, ist der derbe Spruch übrigens auf der Straße zu lesen. Ist die Fahrbahn jetzt auch ein rechtsfreier Raum? Hätte sie gesperrt werden müssen, damit der unbescholtene Bürger und die Betroffene an diesem schrecklichen Anblick keinen seelischen Schaden nehmen?

An den Beispielen sieht man, wie unredlich von der Leyens Stammtischargumente sind. Sie nennt kriminelles Handeln, welches bereits heute unter Strafe steht und verfolgt wird. Dann bringt sie die Menschenwürde ins Spiel und postuliert einen Handlungsauftrag des Staates, der weit über die Verhütung und Verfolgung von Straftaten hinausgeht. Eine zugkräftige, gleichwohl aber billige Argumentation, und zwar in mehrfacher Hinsicht:

Die Menschwürde zählt, vereinfacht gesagt, zu den Grundrechten. Sie ist ein Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates. Niemand darf von staatlichen Organen zu einem bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht und seines Selbst beraubt werden; sein Leben ist nicht gegen das Leben anderer abwägbar.

Frau von der Leyen münzt das Abwehrrecht gegen den Staat in einen Handlungsauftrag des Staates um. Plötzlich ist die Menschenwürde ein Grund für staatliches Eingreifen – der Staat schützt die Menschenwürde seiner Bürger, indem er Dritten den Mund zuhält oder durch Stoppschilder dafür sorgt, dass sie im Internet nicht mehr gelesen, gesehen und gehört werden können.

Das entfernt sich weit vom eigentlichen Sinn und Zweck des Grundrechts auf Menschenwürde. Wie absurd das Ganze ist, zeigt sich an von der Leyens Aussage, die Bewahrung der Menschenwürde begrenze Demokratie und Meinungsfreiheit auf das “richtige Maß”. So werden aus rechtsstaatlichen Grundelementen, die sich bedingen und ergänzen, Gegensätze.


Der ganze fabelhafte Text: Die Meinungsfreiheit als Sondermüll

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