Mittwoch, 15. Juli 2009

...konnten wir manche ökonomischen Gesetze nicht einhalten

War sie gut? War sie schlecht? War sie bewahrenswert oder von Anfang an ein Fehler? Fragen, Fragen, Fragen immer noch, obwohl der damalige DDR-Staats- und Parteichef Walter Ulbricht die Antwort bereits am 4. August 1961 gab. Damals schrieb der Sachse einen Brief an den sowjetischen Parteiführer Nikita Chruschtschow, in dem er "über die besonderen Schwierigkeiten in der Wirtschaft der DDR und die Senkung des Produktionszuwachses" informierte. Ulbrichts schreiben, dass an den "teuren Genossen Nikita Sergejewitsch" gerichtet ist, zeigt in seltener Klarheit, warum die DDR bereits elf Jahre nach ihrer Gründung in so schwere ökonomische Schwierigkeiten gekommen war, dass die oberste Führung eingestehen musste, die angestrebten Siebenjahrplansziele nicht mehr erreichen zu können.


Ulbricht schreibt unter a.: "Die Deutsche Demokratische Republik wurde als Staat gebildet, der fast über keine Grundstoffindustrie verfügte. Während des Zweijahrplanes und des ersten Fünfjahrplanes bis 1955 wurden noch bedeutende Reparationen geleistet. Besonders ab 1955 mußten wir im Interesse der Erhöhung des Lebensstandards der Bevölkerung den Export auf fast allen Gebieten so steigern, daß für die notwendige Rekonstruktion der Industrie fast keine Mittel und Ausrüstungen zur Verfügung standen.

Infolge der offenen Grenzen gegenüber Westdeutschland, das uns in bezug auf das industrielle Niveau in vielen Produktionszweigen und in bezug auf den Lebensstandard der Bevölkerung überlegen ist, konnten wir manche ökonomischen Gesetze nicht einhalten.

Wir haben besonders in den letzten Jahren sehr große Verluste an hochqualifizierten Arbeitskräften durch die Abwerbung der westdeutschen Monopole zu verzeichnen.

Diese Tatsache und die ungenügenden Möglichkeiten zur Mechanisierung und Automatisierung hatten unmittelbaren Einfluß auf das Entwicklungstempo der Produktion.

Bedingt durch die Spaltung Berlins und Deutschlands mußte wir große Investitionen durchführen, die ökonomisch gesehen nicht wirtschaftlich sind. Im Interesse der Belieferung der sozialistischen Länder mit schweren Ausrüstungen wurden 25 neue Schwermaschinenbaubetriebe gebaut.

Durch Mobilisierung der Werktätigen unter Führung der Partei und die Hilfe der Sowjetunion haben wir in der zweiten Hälfte des Jahres 1958 und im Jahre 1959 große ökonomische Erfolge erzielt und den ökonomischen Rückstand gegenüber Westdeutschland verringert.

Die Industrieproduktion stieg 1958 um 10,5% und 1959 um mehr als 12%. Das auf dem V. Parteitag festgelegte Wachstumstempo der Produktion wurde damit erreicht und teilweise übertroffen.

Die Arbeitsproduktivität stieg je Produktionsarbeiter 1958 um 10% und 1959 um 11% und wegen der Krise in Westdeutschland habe sich einerseits die Abwerbung von Arbeitskräften 1958 und 1959 abgeschwächt, andererseits der Abstand gegenüber Westdeutschland beim Lebensstandard verringert."


Dennoch habe das hohe Entwicklungstempo der Volkswirtschaft 1960 und 1961 nicht fortgesetzt werden können, weil in Westdeutschland eine neue wirtschaftliche Hochkonjunktur einsetzte und ein Mangel an Arbeitskräften auftrat. "Gegenwärtig gibt es in Westdeutschland praktisch keine Arbeitslosigkeit", klagt Ulbricht, dagegen mehr als 500000 offene Arbeitsstellen. 1960 hätten deshalb wieder 200000 Personen die Republik verlassen; 1961 sind es bis Ende Juli 130000 Personen. Dadurch sei die Gesamtzahl der Beschäftigten in der Volkswirtschaft der DDR absolut zurückgegangen. "Nach grober Berechnung führt der Verlust an Arbeitskräften durch Abwerbung zu einem Produktionsausfall allein in der Industrie in den Jahren 1960 und 1961 von 2,5-3 Mrd. DM. Der Arbeitskräftemangel ruft neue Disproportionen hervor. Viele volkswirtschaftlich entscheidenden Bauvorhaben weisen durch Arbeitskräftemangel Rückstände auf. Auf den Arbeitskräftemangel sind auch ein Teil der Komplikationen in der Versorgung der Bevölkerung zurückzuführen."

Zudem sei auch die Beschaffung wichtiger Rohstoffe und Waren aus sozialistischen Ländern auf zunehmende Schwierigkeiten gestoßen.

"Es zeigte sich, daß durch die Wirtschaftsvereinbarungen 1960-65 zwischen der UdSSR und der DDR und zwischen der DDR und den anderen sozialistischen Ländern grundlegende Fragen der Rohstoffversorgung der DDR im Siebenjahrplan nicht gelöst werden konnten. Die notwendigen zusätzlichen Bezüge aus kapitalistischen Ländern konnten 1960 nicht durch Exporte der DDR gedeckt werden. "Es entstand eine bedeutende Verschuldung gegenüber dem kapitalistischen Ausland."

Der Passivsaldo Ende 1960 mit dem kapitalistischen Weltmarkt betrug etwa 550 Mio VDM. Dabei mußten 1960 bei kapitalistischen Banken kurzfristige Kredite in Höhe von 215 Mio VDM aufgenommen werden. Außerdem sind die Verbindlichkeiten aus dem laufenden Geschäft durch die volle Ausschöpfung der Zahlungsziele von 110 Mio VDM auf 220 Mio VDM angestiegen.

"Das Anwachsen hoher Schulden gegenüber kapitalistischen Ländern im Jahre 1960 führte dazu, daß wir 1961 den Import aus kapitalistischen Ländern absolut verringern mußten, was sich durch Verringerung der Rohstoffbezüge auf die Produktionshöhe auswirkt."


Zur Zeit betrage die Verschuldung gegenüber Westdeutschland 210 Mio Valuta-DM. "Diese Lage wird noch dadurch verschärft, daß wir per 31.7.1961 bestehende Verbindlichkeiten in Höhe von 80 Mio Valuta-DM nicht zum Fälligkeitstermin begleichen konnten."

Bei anderen kapitalistischen Ländern habe die DDR zudem Schulden in Höhe von 196 Mio Valuta-DM, insgesamt müsse bis Jahresende eine Summe von 70 Mio Valuta-DM zurücgezahlt werden. "Für ie Abdeckung dieser Verpflichtungen haben wir heute noch keine Sicherung", klagt Ulbricht.

Aus dieser hohen kurzfristigen Verschuldung der DDR gegenüber den kapitalistischen Ländern ergebe sich "teilweise ein Zustand der Zahlungsunfähigkeit".

Dabei habe die DDR gegenüber einigen volksdemokratischen Ländern ja "einen bedeutenden Aktiv-Saldo, gegenüber Bulgarien z.B. von 150 Mio Valuta-DM. Auch gegenüber der CSSR und Ungarn bestehen gewisse Aktiv-Salden." Der nütze aber nichts, weil die Bruderländer nicht zahlten.

Ulbricht schließt entschuldigend: "Die geschilderten Schwierigkeiten haben zu einer Verringerung des Entwicklungstempos der Industrieproduktion geführt. Die Industrieproduktion stieg 1959 um 12 Prozent, 1960 um 8,3 Prozent und wird 1961 voraussichtlich um maximal 6,5 Prozent ansteigen" - nicht genug, um den Westen einzuholen, ohne ihn zu überholen. Weshalb die DDR dann die Mauer baute - das brachte ihr 28 Jahre Verlängerung, Pleiteaufschub, Konkursverschleppung. Das ganze Dokument einer angesagten Staatspleite: hier.

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