Sonntag, 1. März 2009
Pilgern zur Pappmauer
Marx wusste noch, dass sich alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen zweimal ereignen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. 150 Jahre später sind die Deutschen natürlich schlauer. Sie wissen jetzt, dass alle "großen weltgeschichtlichen Tatsachen" sich dreimal ereignen: Einmal als Tragödie, einmal als Farce und ein drittes Mal als großer ZDF-Zweiteiler. Oder doch zumindest als von der mitteldeutschen Medienförderung finanziertes kleines Fernsehspiel.
Das heißt dann zum Beispiel "Liebe Mauer", handelt in Abwandlung des Romeo&Julia-Plots von der großen Liebe zwischen Ost und West, und erfordert es, die Mauer wiederzuerrichten, die zu bauen niemals jemand die Absicht hatte und deren Fall sich dem Stotterer eines späteren Anzeigenblattredakteurs aus dem Hessischen verdankt.
Schauplatz der historischen Komödie ist der ausladende Hinterhof der inzwischen abgerissenen größten Fernsehfabrik der DDR, einer hügeligen Brache am Hinterausgang des früheren "Interhotel" der Stadt Halle. Aus Sperrholz, Nägeln und Latten errichtet, ist die etwa fünfzig Meter lange Pappmauer Pilgerstätte für Zeitzeugen und nachgewachsene Generationen gleichermaßen: "Das sieht aus wie echt", staunt ein Besucher, der dem Dialekt nach eigens aus Leipzig herübergekommen ist nach Halle. Drei ältere Damen aus der Nachbarschaft rätseln derweil über das Straßenschild, das die ihnen als Tollerstraße bekannte Ruinenzeile vorübergehend als "Prinzenstraße" ausweist.
Die liegt im Berlin der Vorwendetage - ein Platz, der sich zwei Jahrzehnte danach vielleicht nirgendwo so stimmig erhalten hat wie in der innerstädtischen Randlage der ehemaligen DDR-Industriemetropole Halle. Bröckliges Mauerwerk aus der Gründerzeit ringsum, es sieht aus, als rieche es nach Ofenheizung. Ein leerer blauschwarzer Wolkenkratzer, den die DDR seinerzeit von schwedischen Spezialisten in die Landschaft setzen ließ, nimmt mit originalen Sprayertags hallescher Grafitti-Künstler die Motive auf, die die Filmhandwerker mühsam auf die Westseite ihrer Pappmauer gesprüht haben. Am Horizont malen drei Hochhäuser die Szenerie perfekt weiter: Kein Klecks Farbe ist hier seit 30 Jahren verschwendet worden, es scheint, als hätten die betongrauen Kästen mit den blinden Balkonbrüstungen aus uringelbem Plastik sich bis heute auf diesen letzten großen Auftritt aufgespart.
Der Eindruck ist atemberaubend nicht nur, weil die Westseite der Mauer tatsächlich im Westen liegt und hinterm Stacheldraht im Osten eine riesige Plakatwand zum 40. Jahrestag der DDR gratuliert. Dabei handelt es sich ausweislich eines amtlichen Baustellenschildes jedoch beruhigenderweise nur um ein "Arbeitsgerüst nach EN 12811-1, Lastklasse 3", nicht um die Aufforderung an die Bundesregierung, mit ihrer konsequenten Politik zum Wohle des Volkes fortzufahren.
Alle sind sie da, außer Erich Honecka: Der Kübeltrabi, der W50 und der UAZ-Jeep, eine sowjetische Weiterentwicklung des während des 2. Weltkrieges per Land-Lease über Murmansk an die Sowjetarmee gelieferten amerikanischen Originals, dessen Häßlichkeit schon zu sozialistischen Zeiten bewies, dass Marx Recht hatte mit Tragödie und Farce.
"Und da durftet ihr nie rüber?", fragt eine vielleicht 12-Jährige ihre Mutter. Beide stehen am Drahtzaun, der zum Grenzübergang führt. Hinter dem liegt heute der Hotelparkplatz. Auf Schildern steht deshalb "Zufahrt für Gäste des Maritim-Hotels frei", davor ein Wächter mit grenztruppenuntypischer Warnweste. "Früher durfte man vom Westen aus wenigstens noch bis an den Grenzübergang ran", mault ein älterer Herr den Warnwestenmann an.
Der bleibt unbewegt, vielleicht hat er ja noch gedient. Das Sonnenstudio "City Fun" in der nunmehrigen Prinzenstraße weist darauf hin, dass es weiter geöffnet habe. "Denn Sonne ist Leben". Der Kiosk "Stichpimpuli" hingegen, der heute seinen Jahresumsatz hätte unter Dach und Fach bringen können, hat zu. "Liebe Mauer", heißt es auf einem Aushang am Eingang, den alle Haustüren rundherum abbekommen haben, erzähle "die tragikkomische Geschichte eines jungen Mannes, der 1989 seinen Dienst bei den Grenztruppen der DDR versieht". Dabei treffe er eine Frau aus dem Westen, man verliebe sich, wie das so geht, seit es Männer und Frauen gibt. Die Beziehung gerate dann "durch die politischen Wirren der Zeit in Gefahr". Dieses Schicksal droht diesem kleinen Fernsehspiel hier nicht. "Liebe Mauer" wird sicher genau so originell werden wie es der Filmtitel verspricht.
So was gibt es tatsächlich. Meine Güte, ich kriege ja gar nichts mehr mit, ausser bei Euch.
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