Dienstag, 3. März 2009

Enttäuscht von der Ernüchterung

Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer sind einer Umfrage zufolge viele Deutsche in Ost und West vom seitdem Erreichten mehr denn je enttäuscht. Nach einer Forsa-Erhebung sagen nur 46 Prozent der Einwohner auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, dass sich ihre persönlichen Lebensverhältnisse verbessert haben. Viele klagen darüber, dass es keine Auto Marke "Trabant" und "Wartburg" mehr zu kaufen gebe, auch wird kritisiert, dass Supermärkte die traditionelle Leckerei "Punschspitze" aus den Regalen genommen hätten. Gar nicht gut kommt bei vielen DDR-Zeitzeugen die Abschaffung von Pionierorganisation und FDJ-Jugendgruppen an. Die seien seinerzeit "nicht schlecht" für Kinder und Jugendliche gewesen, sagt einer der Befragten. Auf das Halstuch und die blaue Bluse habe man damals als junger Mensch noch stolz sein können.

Überall ist die Ernüchterung groß. Vor 20 Jahren noch hatten im Osten Deutschlands 71 Prozent der Menschen erwartet, dass es ihnen bald besser gehen werde. Doch die Träume sind geplatzt. Mit dem Alter kamen erste Zipperlein, manche haben es inzwischen im Rücken, andere am Knie. Auch vertrage man nicht mehr so viel wie früher, meinen 35 Prozent, die meisten von ihnen sind allerdings überzeugt, dass das "auch am Bier" liege: In der DDR sei das nicht nur billiger gewesen, sondern man habe auch ungleich mehr davon zu sich nehmen können, ohne betrunken zu werden.

Viele frühere Großbetriebe, in denen sich Millionen Ostdeutscher seinerzeit jeden Montag gemütlich zur Parteiversammlung trafen, sind abgerissen, die 1400 Kilometer lange Grenze, an der zehntausende junger Männer Arbeit und Brot als Wachmann, Minenspezialist oder Elektriker gefunden hatten, ist verschwunden. Durch die kolonialwarenartig organisierte Zulieferung von Gas-Brennwertkesseln und Ölheizungen der Marke Buderus gingen nicht nur beim Braunkohlehandel tausende Arbeitsplätze, sondern den ostdeutschen Städten auch das spezielle DDR-Luftaroma verloren.

Das schönste am Mauerfall sei so immer noch der Film "Sonnenallee" gewesen, meinen 77 Prozent der Ostdeutschen. Auch im Westen sehen nur 40 Prozent ihre Lage als besser an, mehr als die Hälfte findet, das alles viel schlimmer geworden ist als während der Massenstreiks in Montanindustrie und den Großdemos gegen den Nato-Doppelbeschluß, als Großkapital und Manager dem kleinen Mann wenigstens noch die Angst vor dem Atomkrieg gelassen hatten.

So sieht das auch der Osten mehrheitlich. Jeder vierte Ostdeutsche meint angesichts neuer Autobahnen, eines erneuerten Fahrzeugparkes, sanierter Straßen und mit Filtern versehener Chemiefabriken, dass es den Menschen in den fünf neuen Bundesländern heute schlechter gehe als vor 1989. Ehemals süße Babys seien zu störrischen jungen Männern und jungen Frauen gewachsen, die teure Handyrechnungen püroduzierten. Damals habe es noch Freundschaft und Liebe gegeben, zahlreiche inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit passten auf Schrit und Tritt auf jeden Menschen auf und weil es keine Handys gab, musste man sich auch nur eine eigene Telefonnummer merken. 0900er Nummern seien zudem noch nicht eingeführt gewesen, auch Tele5 und Das Vierte hätten noch nicht gesendet, so dass sich die ganze Familie ohne Streit immer wieder um den Sender DDR2 versammeln und den schönen Marx-Film "Die jungen Jahre" anschauen konnte. Heute hingegen komme man bei Gewinnspielen auf DSF oder Neunlive häufig nicht durch, obwohl man die Lösung ganz genau wisse. Außerdem sei es unsicher, mit Kreditkarte zu zahlen, weil rumänische Banden die weggeworfenen Quittungen aus Tankstellenpapierkörben stühlen. Auch im Internet lauerten zahlreich Fallen, die es zu DDR-Zeiten noch nicht gegeben habe. 47 Prozent aller Befragten gaben an, sich beim Surfen schon einmal einen Virus eingefangen zu haben, 87 Prozent versichern sogar, ihnen sei unverlangt Viagra-Werbung zugesand worden, 47 Prozent davon behaupten, sie hätten die englischsprachigen Mails gar nicht lesen und somit auch nicht verstehen können, seien aber gerade deshalb beunruhigt gewesen. Das sei ihnen in der DDR nie passiert.

Nur 39 Prozent der Menschen im Osten zählen sich deshalb explizit zu den Gewinnern der Einheit. «Die Euphorie, die nach dem Mauerfall herrschte, ist weitgehend verflogen», begründet Forsa-Chef Manfred Güllner die überraschenden Zahlen. Auf beiden Seiten der früheren Grenze sei die Enttäuschung spürbar, dass der Himmel auf Erden noch nicht errichtet worden sei. «Die Westler haben das Gefühl, nur für den Osten bezahlen zu dürfen», so Güllner. Die Ostdeutschen wiederum glaubten, sie seien nur ausgenutzt worden, weil der Westen scharf auf einmalige Errungenschaften wie den Haushaltstag oder die Lizenzschallplatte gewesen sei.

4 Kommentare:

  1. Ja, die Kleinen Pioniere fehlen mir auch und SERO-Annahmestellen. Keiner klingelt mehr und fragt, ob er Flaschen, Gläser oder Lumpen abholen darf. Alles muss man selbst beseitigen.

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  2. Tolle Satire. Am Meisten fehlt mir die kakaofreie Kinderschokolade.

    Die Loslösung vom damals heißgeliebten repressiven System hat allerdings im Westen auch mindestens 20 Jahre gedauert und ist erst durch das amerikanisch/deutsche Wirtschaftswunder endgültig mit Geld erstickt worden.

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  3. "In der DDR sei das nicht nur billiger gewesen, sondern man habe auch ungleich mehr davon zu sich nehmen können, ohne betrunken zu werden."

    Außer in den Bezirken Dresden und Berlin wurde die Brühe doch mit Schweinegülle versetzt. Ich vermisse nichts aus der Zone, gar nichts, außer vielleicht die friedliche Wende.

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  4. ja, aber uns fehlt sie halt, die schweinegülle

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