Donnerstag, 6. November 2008

Wenn Tote zu toll dichten

Es passte alles so wunderbar. Ein Gedicht geht um die Welt, es kommt aus der Mottenkiste und es klagt doch hellsichtig an, wie schlimm die Leerverkäufer wüten, wie schrecklich der Kapitalismus versagt und wie rücksichtlos die reichen die Armen ausbeuten. Unten drunter der Verfassername Kurt Tucholsky und der Applaus pladdert nur so los: Zuerst schickten sich Internetuser die gereimte Klageschrift des Klassikers zu, dann stiegen Dutzende Zeitungen, Fernsehsender und Radiostationen ein.

Und nun ist das ganze Werk gar nicht von Tucholsky, sondern von einem Richard Kerschhofer, es hatte auch nicht vor 80 Jahren in der "Weltbühne" Premiere, sondern erst vor kurzem im, jaja, Ostpreussenblatt.

Der Autor des Werkes, das "Höhere Finanzmathematik" heisst, wundert sich inzwischen über gar nichts mehr. Kaum eine zeitung frage vorher an, wer die Rechte an dem kleinen Werk halte. Und stelle sich dann heraus, dass es nicht Tucholsky sei, beklagen selbst so namhafte Blätter wie die "Zeit", es handele sich um "eine Fälschung".

Wer aber fälscht hier? Der, der ein Gedicht schreibt? Oder der, der den anonym hinzugefügten Verfasserhinweis "Kurt Tucholsky" nicht prüft, sondern einfach so übernimmt, weil es prima passt, Tucholsky ja sowieso immer Gedichte über "Derivate" und "Leerverkauf" geschrieben hat, weil das zu seiner Zeit total angesagte Themen waren?

Alles Lüge, sang Rio Reiser, der etwas vom Umgang deutscher Medien mit der Wahrheit wusste: Was nicht passt,w ird passend gemacht und wer zuerst lügt, hat recht. "Besonders tief blicken läßt, wie Linksradikale mit dem Gedicht umgehen", hat Dichter Kerschhofer in den letzten Tagen bemerkt: "Eine linksextreme Internetseite, auf der das Gedicht zuvor besonders bejubelt wurde, meinte nach der Identifikation eines „Rechten“ als Autor, das Werk gar als „antisemitisch“ bezeichnen zu müssen". Schließlich sei "das Wort „Spekulantenbrut“ doch verräterisch." Ähnlich herumgeeiert werde mittlerweile auch auf etlichen Seiten der Linkspartei, auf denen das Gedicht ebenfalls gefeiert wurde - kann denn sein, was nicht sein darf? Kann denn ein Lebender so gut dichten können wie ein Toter? Taugt ein Rechter als Kronzeuge gegen den Kapitalismus?


„Ein Gedicht ist so lange gut, bis man weiß, von wem es ist", zitiert Richard Kerschhofer am Ende seiner Klage in eigener Sache. Ein Satz von Karl Kraus. Wirklich.

Wenn die Börsenkurse fallen,
regt sich Kummer fast bei allen,
aber manche blühen auf:
Ihr Rezept heißt Leerverkauf.
Keck verhökern diese Knaben
Dinge, die sie gar nicht haben,
treten selbst den Absturz los,
den sie brauchen - echt famos!
  
Leichter noch bei solchen Taten
tun sie sich mit Derivaten:
Wenn Papier den Wert frisiert,
wird die Wirkung potenziert.
Wenn in Folge Banken krachen,
haben Sparer nichts zu lachen,
und die Hypothek aufs Haus
heißt, Bewohner müssen raus.

Trifft's hingegen große Banken,
kommt die ganze Welt ins Wanken -
auch die Spekulantenbrut
zittert jetzt um Hab und Gut!
Soll man das System gefährden?
Da muss eingeschritten werden:

Der Gewinn, der bleibt privat,
die Verluste kauft der Staat.
Dazu braucht der Staat Kredite,
und das bringt erneut Profite,
hat man doch in jenem Land
die Regierung in der Hand.


Für die Zechen dieser Frechen
hat der Kleine Mann zu blechen
und - das ist das Feine ja -
nicht nur in Amerika!
Und wenn Kurse wieder steigen,
fängt von vorne an der Reigen -
ist halt Umverteilung pur,
stets in eine Richtung nur.

Aber sollten sich die Massen
das mal nimmer bieten lassen,
ist der Ausweg längst bedacht: 
Dann wird bisschen Krieg gemacht.   

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