Samstag, 7. Juni 2008

Schlimmer Schein

Für lichte Momente der offen ausgesprochenen grausamen Wahrheiten sind in Deutschlands Medien ja nur einige wenige zuständig. Inmitten der wolkig gutgemeinten Berichterstattung über eingebildete Mißstände, wachsende Armut, sinkende SPD-Umfragewerte und die Besetzung des linken Flügels der deutschen Nationalmannschaft bleibt auch kaum Zeit, das Große und Ganze zu betrachten.

Neben Hendryk M. Broder bleibt die Aufgabe, die Augen aufzumachen und zu beschreiben, "was wirklich ist" (Georg Friedrich Wilhelm Hegel), so ost an Dirk Maxeiner und Michael Miersch hängen. Deren "Welt"-Kolummne berichtet auch von Krisen. Die aber sind, genau betrachtet, nur schlimemr schein in einem Land, dessen Einwohnern es so gut geht wie noch nie zuvor.


Diese Woche wurden wir von der Milchkrise, der neuerlichen SPD-Krise und der Eckkneipenkrise heimgesucht. Ganz zu schweigen von der Birma-Krise zwischen Alice Schwarzer und Matthias Matussek. Die Welt wird von Tag zu Tag schlechter, lautet der Minimalkonsens zwischen dem Volk und seinen ungeliebten Vertretern. Die Jüngeren wissen schon gar nicht mehr, dass es jemals anders war. Dass es mal einsame Intellektuelle gab, die sich mit ihrer Kritik schwer unbeliebt machten. Wer fand, dass in Deutschland nicht alles in bester Ordnung war, wurde schnell zum Außenseiter. Heute ist es umgekehrt. Wer erklärt, irgendetwas in Deutschland oder in der Welt sei gar nicht so übel, erntet allgemeines Kopfschütteln. Der Argwohn gegen alles Bestehende gehört zur kulturellen Grundausstattung vom Kleinkind bis zum Rentner.

Es begann, als die Trümmergeneration in Westdeutschland aus dem Gröbsten raus war und anfing, Auto, Wohnung und Urlaub zu genießen. Was kurz zuvor noch als Wirtschaftswunder und Massenwohlstand gefeiert wurde, war wenig später dumpfer, sinnloser Konsum. Kurz darauf gab es eigentlich nichts Gutes mehr. Alles, was nicht offensichtlich zum Bösen gehörte, wurde umgehend als Schein entlarvt. Abgründe allerorten.

Heutzutage hat die Fertigkeit, jedes noch so harmlose Ereignis zur Bedrohung umzudichten, ein hohes künstlerisches Niveau erreicht. Es gibt inzwischen Themen, die völlig gegen Zustimmung immunisiert sind. Zum Beispiel die Lebensmittelpreise. Sind sie niedrig, sieht man daran, mit welchem degenerierten Fraß uns die Industrie abfüttert. Steigen sie, wird umgehend das Soziallamento angestimmt. Auch die Energiepreise können es niemandem recht machen, sondern heizen entweder das Klima oder die neue Armut an. Ähnlich ergeht es dem Wetter. Jeder schöne Sonnentag verheißt Hautkrebs. Wird eine rare Tierart häufiger, ist das kein gutes Zeichen für die Artenvielfalt, sondern ein Menetekel der globalen Erwärmung. Gelobt wird nur, was in Not ist. Früher verdammten die Herolde der Hochkultur Comics als fantasiezerstörenden Schund. Heute preisen Feuilletons die Bildgeschichten als bedeutende literarisch-künstlerische Werke, weil Computerspiele bei Jugendlichen inzwischen beliebter sind als Comics. Nur wer ausstirbt, findet Gnade.

Den vorläufigen Höhepunkt kulturpessimistischer Umdeutung fanden wir kürzlich in der "Süddeutschen Zeitung". Sie berichtete, dass auch Nichtakademiker immer häufiger in Museen angetroffen werden. Ein Trend, den einfältige Optimisten eventuell gut finden könnten. Die Autorin jedoch beklagte, "Schlappenträger mit Digitalkameras" würden die Kulturtempel Europas verstopfen. Falls sich dieser Trend wieder umkehren sollte, bereiten wir schon mal einen Artikel vor: "Bildungsgefälle immer krasser - nur noch die Besserverdiener gehen ins Museum."

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