Samstag, 5. April 2008

Im Eis der Erwartungen

Das Wetter zum Beispiel ist nie nur da. Sondern stets schlechter als erwartet oder doch besser als gedacht. Ein Sturm in Deutschland stürmt nicht einfach und richtet Schaden an. Nein, er stürmt mehr als vorher befürchtet. Und richtet dabei weniger Schäden an als angenommen. Wahlergebnisse, Umsatzzahlen, Zuschauerzuspruch, Zinsentscheidungen - sechs Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg, der ganz anders ausging als von deutscher Seite aus erwartet worden war, ist Realität ein Konstrukt aus vermeintlich vorab angekündigten Rekorden und anschließend erfolgreich gerissenen oder gerissen unterlaufenen Latten.

Die Deutsche Bank enttäuscht und meldet höheren Abschreibungsbedarf. Als erwartet. Die Bundesregierung zieht die Biospritregelung zurück, weil der Sprit mehr Autos schaden würde. Als erwartet. Die Nationalmannschaft gewinnt in der Schweiz höher. Als erwartet. Die ARD sendet den umstrittenen „Tatort“, der neulich noch verschoben wurde, nun doch. Und zwar, selbstverständlich, schneller als erwartet.
Nie wird dabei offenbar, wer das eigentlich ist, der die Erwartungen hegt, die hernach enttäuscht oder übertroffen werden, zumeist gibt es sogar gar keine vorab angekündigten Erwartungen, sondern ausschließlich das bilanzierende Moment: Erst mit dem Vollzug des Ereignisses werden die vermeintlich vorher bestehenden Erwartungen an den Ausgang mitgeliefert.

Eine Systematik, die Nachrichten generiert, selbst wo keine sind. Vorbei die Tage, als nur der schlimmste Orkan überhaupt das Zeug zur Schlagzeile hatte, weil er gemessen an all seinen Vorgängern eben einmalig und unübertroffen der schlimmste war. Überstanden die Zeiten, in denen neue Platten von Udo Lindenberg ungestört  von Superlativen erscheinen konnten, weil überhaupt niemand Erwartungen an Platten des ewigen Udonators hatte.

Die Nachrichtenmaschine ist heute nicht mehr auf Ereignisse angewiesen, weil sie selbst es ist, die Ereignisse herstellen kann: Wetter ist ihr nicht einfach nur Wetter, sondern schlechteres oder besseres Wetter als vorhergesagt. Reaktionen auf Ereignisse fallen wahlweise „heftiger“ oder „weniger heftig“ als zuvor angenommen aus, Rentenerhöhungen, Tarifabschlüsse, Lokführerstreiks – nie ist etwas genauso wie von irgendwem erwartet, nirgendwo gibt es folglich Grund zur Ansage: Nichts passiert, alles wie gedacht.

Nein, je langweiliger, bräsiger, versorgter und fertiggestellter Deutschland zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer wird, der damals in der Tat schneller kam als erwartet, je virtueller werden virtuelle Ereignishuberei und verbale Betriebsamkeit in den Realitätsfabriken zwischen Hamburg, Berlin und München.

Der Papst kommt vielleicht nach Deutschland, aber sicher schneller als erwartet. Die SPD stürzt in Umfragen auf jeden Fall noch tiefer als befürchtet. Die rechtsradikale Gefahr hingegen ist erwartungsgemäß immer noch viel größer als vermutet. Wo nichts mehr passiert, ist alles eine Nachricht. Und wo niemand etwas erwartet, wird jede Erwartung enttäuscht.

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