Das Aus war nahe, der Absturz in die Kelleretagen des deutschen Fußballs nur eine Frage von Tagen. Spätestens nach dem absehbar harten Urteilsspruch des NOFV-Sportgerichtes wegen der zwei Jahrzehnte nach ihrer Kurvenpremiere doch noch erhörten "Juden-Jena"-Rufe einiger ebenso hirn- wie zahnloser Betreuungsfälle in der Fankurve drohte dem Halleschen FC der Fall ins Niemandsland der Oberliga-Tabelle. Und mit dem Abschied von der ersehnten Qualifikation für die künftige vierte Profiliga auch der Abschied von der wenigstens halbüberregionalen Fußballbühne.
Hoffnung war wenig. Zuverlässig hatten die Hallenser in der Vergangenheit an genau den Wegbiegungen die falsche Richtung genommen, an denen ehemalige DDR-Oberliga-Konkurrenten wie Magdeburg, Jena, Rostock, Cottbus oder Union Berlin richtig abbogen. Abgesehen von Stahl Riesa und Lok Leipzig gelang es den zumindest gefühlten Erben des ersten Ostzonenmeisters Freiimfelde Halle so, zwischenzeitlich ganz nach unten durchzustoßen, dorthin, wo keine Fernsehkamera mehr schaut.
Die guten Zeiten in Halle waren immer nur eine Halbserie lang, etwa die, in der eine bis heute unvergessene Elf um den derzeitgen Co-Trainer Dieter Strozniak Magdeburg, den BFC und Jena hintereinander putzte und bis auf Rang drei stieg. Ehe sie anschließend so konzentriert abbaute, dass der Klassenerhalt gerade noch so geschafft wurde.
Zu Sachsen Leipzig, der traditionell verhassten anderen Chemie aus Mitteldeutschland reisen zu müssen, während Hamburger Sportmagazine mit ganzen Klammerbeuteln voller lizenzfrei erworbener HFC-Fangesänge für ein Verbot des Kleinklubs werben, bedeutet folglich programmgemäß: Ankommen, mutig gegenhalten, nach etwa 60 Minuten das erste Tor kassieren, aufmachen, auf den Ausgleich drängen. Und in der 90. den Enthauptungsschlag kassieren.
Aber manchmal trägt das Schicksal rot und weiß und es hat sich etwas ausgedacht. So steht es diesmal auch 87. Minuten nach der Einlaßkontrolle, die jeden angereisten Zuschauer konsequent als potentiellen Gewalttäter, Sprengstoffschmuggler und Brandfackelwerfer behandelt, dem durch eine möglichst entwürdigende Anstehprozedur klargemacht werden muss, dass er hier auch als 54-jähriger Bauingenieur mit eigenem Planungsbüro nicht mehr gilt als ein toter Straßenköter, steht es also nach 87. Minuten 0:0. Der HFC hat stark abgebaut in den letzten Minuten, Leipzig aber richtet sich jetzt auf ein Remis ein. Damit ist keinem geholfen und allen geschadet, naheliegend, dass es so sein wird.
René Stark aber, einziger Hallenser in der seit der Jahrtausendwende etwa siebenmal komplett umgebauten Elf der Saalestädter, schlägt dann doch nochmal einen langen, weiten Ball von links nach rechts hinüber auf Maik Kunze. Zehnter Versuch etwa, alle vorher waren zu flach, zu kurz oder zu hoch und zu lang. Diesmal jedoch steht der Leipziger Verteidiger unerwarteterweise zu weit in der Mitte und Kunze, kein Ballzauberer, kann annehmen und nach innen flanken. Dort wartet Thomas Neubert, ein Mann, der Fußball eigentlich mit der Grandezza eines Schreitbaggers spielt - immer sind ihm die eigenen Füße im Weg, immer ist der Gegner schon da, ehe er selbst sich und den Ball richtig im Raum anordnen kann.
Nicht jetzt aber und nicht hier. Auf geheimnisvolle Weise verkürzt Neubert, der alle Bälle bisher verstolpert hat, sein rechtes Bein. Es sieht aus, als zöge er es in den Oberkörper hinein. So kann er ausholen. Und aus drei Metern ins Tor schießen.
Danach abdrehen in den aufbrandenden Jubel. Halb in die Knie legt sich der Riese, fährt die Arme zum Himmel. Jede Sehne sagt: Ich glaubs selbst nicht! Die Fankurve, die heute ein Hochsicherheitstrakt hinter dem Tor ist, schreit auf wie 17 Jahre vorher die Flüchtlinge in der Prager Botschaft. Neubert ist jetzt ihr Genscher, sein Tor ihre Ausreisegenehmigung in eine Welt ohne den apokalyptischen Alptraum vom wegen Punkabzügen und sportlichem Versagen nur noch hobbyfußballkickenden HFC.
Drei Minuten und tausend Ängste später ist Schluß. Der HFC ist Tabellenführer, zum ersten Mal seit anderthalb Jahren. Damals folgte dem grandiosen Gipfelsturm im Herbst ein Zusammenbruch, der die Mannschaft zu Weihnachten schon gegen den Abstieg spielen sah. Ob es diesmal anders kommt? Anders als immer?
Kommt auf das Urteil nächste Woche an, sagt der Bauingenieur beim Rausgehen.
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