Mittwoch, 7. November 2007

Früher war das nicht so

In einer Badewanne den Ozean, in einem Wassertropfen die ganze Welt. Bernd Niquet ist eine Meister des Blicks aufs große Ganze durchs enge Küchenfenster. Was er genau mit "früher" meint, wird zwar nicht klar, in der PPQ-Talkshow sitzenbleiben darf er trotzdem mit seinem Poem "Verbitterung über unseren Staat"

Auch an diesem Morgen hat die Mutter ihre Kinder in die Schule gebracht. Im Park neben der Schule sind die Drogenhändler bereits wach. Zwei Polizisten kommen vorbei, und es ergibt sich ein kurzes Gespräch. Schon über zwanzig Mal haben die Polizisten die Drogenhändler festgenommen. Doch exakt genauso oft sind sie anschließend sofort wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Der Verbitterung und Verzweiflung ist verständlicherweise groß. Irgendetwas hat sich verändert. Früher war das nicht so.

Anschließend fährt die Frau, ihren Vater im Pflegeheim besuchen. Alle zwei Tage geht sie dort vorbei, denn ihr Vater hat Alzheimer und niemand weiß, wie lange er sie noch erkennt. Der Pförtner wartet bereits und drückt ihr einen dicken Briefumschlag mit Arztrechnungen in die Hand. So ist das jedes Mal. Für jede Stunde, die die Frau bei ihrem Vater ist, muss sie in etwa die gleiche Zeit aufwenden, um den Papierkrieg mit den Ärzten und der Krankenkasse abzuwickeln. Irgendetwas hat sich verändert. Früher war das nicht so.

Vor kurzem ist entschieden worden, dass die Frau zur gesetzlichen Betreuerin ihres Vaters ernannt wird. Wirksam wird das allerdings nur, wenn sie dem Gericht eine lückenlose Vermögensaufstellung ihres Vaters vorlegt. Das bedeutet, von drei Banken und zwei Fondsgesellschaften auf den Stichtag terminierte Bescheinigungen anzufordern, die Kosten zu tragen, sowie andere Wertgegenstände aufzulisten und notariell beglaubigen zu lassen. Doch was geht das Gericht das eigentlich an? Irgendetwas hat sich verändert. Früher war das nicht so.

Die Frau weigert sich. Dem Richter gegenüber gibt sie an, sich persönlich dafür zu verbürgen, dass ihre Angaben korrekt sind. Aber sie will keinen Notar und keine kostenpflichtigen Vermögensaufstellungen. Der Richter erklärt daraufhin, dass in diesem Falle das Gericht einen anderen Betreuer bestellen würde. Irgendetwas hat sich verändert. Früher war das nicht so. Die Drogenhändler werden freigelassen, und am normalen Bürger wird der Kontrollzwang ausgelebt.

Als die Frau nach Hause kommt, ruft sie beim Finanzamt an. Sie hat gesehen, dass ihre Werbungsausgaben nicht anerkannt worden sind, obwohl sie sie korrekt angegeben hat. Leider jedoch sei der Termin für einen Einspruch bereits vergangen, sagt die Dame aus dem Finanzamt. Ja, sagt unsere Frau, aber sie wolle ja jetzt nicht nachträglich etwas einreichen, sondern das, worum es gehe, stehe ja von Anfang an klar auf dem Papier. Trotzdem, beharrt die Finanzbeamtin. Resigniert beendet unsere Frau das Telefonat. Natürlich muss es Fristen geben, aber ist das nicht irgendwie Betrug? Das Finanzamt hat einen Fehler gemacht, doch es muss diesen Fehler nicht korrigieren, weil der Bürger es erst später als einen Monat gemerkt hat?

Irgendetwas hat sich verändert. Früher war das nicht so. Und unsere Frau spürt ein Gefühl, das vielleicht ungerecht ist, aber es ist ein vehement starkes Gefühl, dass es sich kaum noch unterdrücken lässt: Wenn schon sie selbst, der es doch eigentlich rundherum sehr gut geht, so einen Hass auf diesen Staat hat, was soll dann eigentlich mit all den anderen sein, die hier leben und denen es nicht so gut geht wie ihr selbst?

5 Kommentare:

  1. seit ich mein studium beendet und damit anspruch auf arbeitlosengeld zwei habe, um das ich mich von hier aus beworben habe und das mir leider nich zusteht, weil der staat der ueberzeugung ist, eine realistische chance fuer mich -- wir kennen mein akademisches gebiet -- einen job zu finden bestuende nur, wenn ich zum zeitpunkt der antragstellung an meiner meldeadresse lebte -- wie wissen, wo das ist -- kann ich die letzte frage sehr einfach beantworten: so sehr, dass ich trotz aller liebenswerten dinge diesem staat -- nich unbedingt diesem land -- sofort den ruecken kehren wuerde wenn ich die gelegenheit erhielte.

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  2. einer, den ich kenne, fragt immer mal "wo kommt nur dieser hass" her. ich fand, der niquet beschreibt das ganz gut

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  3. der hass kommt daher dass regeln mein leben bestimmen, die fuer eine realitaet entwickelt wurden, in der ich nich lebe. ich waere ueberrascht, waere ich ein einzelfall.

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  4. ja, und ich habe angst einens tages einfach zu alt zu sein, um mit heißem herzen und gekrümmten finger eine ganze liste mit hassenswerten bütteln mit einem blick ins mündungsfeuer einer kalaschnikow zu belobigen .... ;-)

    dummheit und frechheit scheinen mir derzeit in staatsqualität umgeschlagen zu sein.

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  5. der letzte satz: eine gute frage, die ich mir auch schon öfter stellte.

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