Freitag, 9. November 2007

Fremde Federn: Gefühlter Untergang

Die Kohle liegt zu tief, die Löhne sind zu hoch, das Wetter ist schlecht und die Kinderarmut steigt. Deutschland im Jahre 2007 unterscheidet sich, glaubt man den Mehrheiten bei Umfragen, eigentlich kaum von Deutschland im Jahre 1945. Alles ist Jammer, alles ist Leiden, es regnet immerzu und wenn es nicht regnet, scheint die Sonne viel zu stark. Bald wird die Kohleförderung nun auch noch aufgegeben, die Löhne steigen und die Kinderarmut wird demnächst mehr Kinder betreffen, als überhaupt gezeugt worden sind. Die Welt beschreibt das Phänomen des gefühlten Untergangs in einem Stück, dem nichts hinzuzufügen ist.



Deutschland ist wirtschaftlich erfolgreich, gilt technisch als effizient, aber emotional als hochgradig erregbar. In meteorologischen Kreisen spricht man vom gefühlten Wetter - im Gegensatz zum realen. Da wird angenehme Kühle als bitterkalt empfunden, wohlige Wärme als schweißtreibend. Auch unsere wirtschaftliche und soziale Verfassung wird emotional völlig anders wahrgenommen als der reale Befund.
Derzeit glaubt die Mehrheit der Bürger zwar, dass sich die Wirtschaft im Aufschwung befinde, befürchtet aber zugleich, dessen Wohlstandsmehrung sei an ihnen vorbeigegangen. Dieses verbreitete Gefühl der Zukurzgekommenen blendet Tatsachen aus: dass rund eine Million Menschen wieder einen Job bekamen, weit über eine Million offener Stellen winken, der Export brummt, Fachleute gesucht werden und die Löhne steigen, dass dieses Land sozial insgesamt wohlversorgt ist und zu den Gewinnern der Globalisierung gehört.
Die Witterung zu den Unpässlichkeiten der Zeit aufzunehmen läuft auf gefühlsmäßige Bedrohung hinaus. Alte fühlen sich jung, Junge alt, die Reichen fühlen sich arm, die Armen noch ärmer. Man leidet unter gefühliger Inflation, Ausbeutung, unter Terror, Bespitzelung, Unrecht oder der Maul- und Klauenseuche. Ein Volk, von Bedrohungen umzingelt. Es verwechselt Gleichheit mit Gerechtigkeit, hält sich aber die Gelbe Tonne fürs grüne Wohlbefinden. In die Gefühlswelt abzuheben scheint die deutsche Form des Eskapismus zu sein. Das gesellschaftliche Gefühl ist nicht, wie die Romantiker schwärmen, der Verstand des Herzens, sondern verwirrt uns durch Nebelwallungen, beispielsweise auf Gipfelkonferenzen oder Parteitagen. Auch dort triumphiert der gefühlige Zeitgeist über die Vernunft.
So kämpft der Finanzminister derzeit wacker gegen Kollegen, die mit weiteren Ausschüttungen Wählersympathien kaufen wollen. Eine zeitgeistige Wende: Die Deutschen halten sich für arm, aber ihren Staat für reich, und zwar für so reich, dass sie von ihm neue Leistungen und weitere Nettigkeiten begehren. Dass er schon bis über die Hutschnur verschuldet ist und trotz munterer Konjunktur weiter neue Schulden auf die alten häuft, blenden sie aus. Das Anlegen von Spendierhosen erfasst die politische Klasse wie eine Zwangsneurose.
Nur die Senioren erinnern sich noch daran, dass sich die emsigen Facharbeiter der Fünfzigerjahre einen Lebensstandard schafften, wie ihn heute Hartz-IV- oder Sozialhilfeempfänger bekommen. Gewiss ist vieles in diesem Land auf Rand genäht, und die Probleme sind nicht gering. Aber ein Salto rückwärts ins Wohlfahrtsstaatliche wäre eine Scheinlösung.
Viele Forscher bemühen sich nun, den Graben zwischen gefühlten Krisen und realen Verhältnissen zu überwinden. Die Wirtschaftsforscher bereiten die Öffentlichkeit behutsam auf eine konjunkturelle Ermüdung vor. Die Genforscher rennen gegen eine Stahlwand von Vorurteilen. Den Klimaforschern gelang es dagegen, eine gefühlte Apokalypse in die gesellschaftliche Befindlichkeit zu implantieren. Das Wetter vom nächsten Donnerstag vorauszusagen bereitet ihnen Schwierigkeiten, aber die Klimaverhältnisse im Jahre 2050 prognostizieren sie auf die Kommastelle exakt.
Von klimawandelnden Katastropheten beeindruckt, erdulden die Bürger klaglos höhere Steuern und Abgaben, neue und angeblich umweltschonende Bürokratien, verfeuern kostbare Feldfrüchte in Motoren, verlieren aber den Überblick über wirklich klimaschonende Energieformen eines in Wahrheit kleinen Landes.
Eigentlich wäre es Sache der politischen Klasse, ihren gefühlsgesteuerten Mitmenschen zu Augenmaß zu verhelfen, ihnen die Wahrnehmung des Realen zu erleichtern. Aber sie orientiert sich lieber an den demoskopischen Reihenuntersuchungen. Und die legen nahe, sich der öffentlichen Gefühlslage zu unterwerfen, statt sich ihr beherzt zu stellen. Stempelgeld, Mindestlohn, Sozialausschüttungen - die Lufthoheit über das Soziale geht mit einer gefährlichen Reformphobie einher. Man knickt vor ihr und angeblichen Gerechtigkeitslücken ein.
So wie die merkwürdigsten Fernsehgaukler für prominent gehalten werden, so gilt jeder Staatszuschuss als sozial. Selbst die gestandene Bürgerlichkeit geht vor der Imponierlyrik der Verteilungspolitiker in die Knie. Demokratie bedeutet Mehrheit, aber Politik Gestaltung von Zukunft.

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