Für fünf Minuten reichen Kraft und Entschlossenheit nach dem Offenbarungseid gegen Fortuna Köln. Dann hat der Hallesche FC, seit Wochen fast widerstandslos gen Abstiegszone taumelnd, eine Torchance, hundertprozentig. Toni Lindenhahn spielt Marvin Ajani frei, ein Traumpass, nach den Lehren des Packing ein Stich ins Herz der Abwehr der gegnerischen U23 von Werder Bremen, der die halbe Abwehr aushebelt. Ajani, in den Reihen der zusehends malade gewordenen HFC-Elf einer der wenigen Spieler, die immer Einsatz zeigen und gelegentlich auch noch glücklich agieren und das Tor treffen, schließt gut ab. Trifft aber die Lücke zwischen Oberschenkel und Arm des Bremer Torhüters in genau dem Moment, in dem sie sich schließt.
Keine frühe Führung, wieder nicht. Und auch keine spätere. Wie immer sehen die 4700, die bei spätwinterlichem Nebelwetter in den geisterhaft wirkenden Erdgas-Sportpark gekommen sind, ein Spiel, in dem die Nerven den Takt geben. Die der Hallenser liegen offen: Klaus Gjasula, in guten Tagen ein Anführer, trägt die Rolle wie ein viel zu großes Hemd. Er marschiert, erobert Bälle. Um sie im nächsten Moment unbedrängt über das halbe Feld an einen Bremer abzugeben. Ähnlich agiert Mathias Fetsch, der, ja, so war er vorgestellt worden, "Königstransfer", dem schon weit vor dem Tor eben jene Nerven zu versagen pflegen. Als Toni Lindenhahn, der nach Monaten immer schmerzhafter werdenden Leidens an Fabian Baumgärtels Standards heute alle Ecken treten darf, einen Eckball sauber in den Fünfmeterraum zirkelt, ist Fetsch zur Stelle. Leichte Rückenlage aber lässt das Leder einen halben Meter über den Kasten fliegen.
Könnte 2:0, ist aber immer noch torloses Remis. Und langsam fallen sie wieder vom Glauben ab da unten, man kann zusehen, wie die Nervosität steigt, wie der Zweifel in die Glieder fährt, wie Fennell mit sich hadert und Franke, der Riese mit dem roten Bart, mit aller Kraft seiner 1,91 Meter will, aber nicht kann. Trainer Rico Schmitt rudert draußen, auch das wie immer, er schiebt imaginäre Spielfiguren auf ihre Positionen, brüllt und winkt und ist doch verflucht, zuzuschauen, wie seinen Männern das Zepter aus der Hand rutscht.
Wenigstens sind die Gäste, Vorletzter der Tabelle und seit August 2017 ohne Sieg, nicht in der Lage, das Ding zu fangen. Auch Bremen fürchtet sich vor der eigenen Courage. Und Bremen hat keinen Spieler wie Toni Lindenhahn, der heute nicht nur zum zweiten Mal in diesem Jahr und zum neunten in dieser Saison von Anfang an mitspielen darf. Sondern der auch sein bestes Spiel seit dem legendären 4:3 gegen Hansa Rostock vor vier Jahren macht. Lindenhahn, "TL6" oder einfach Toni, ist überall. Der nach dem von Schmitt vor dem Köln-Spiel verfügten Abschied von Torwarthoffnung Tom Müller einzige Hallenser auf dem Platz kämpft und ackert, er rennt und grätscht, ist vorn und hinten, links und rechts und in der Mitte, er verteidigt, erobert Bälle und leitet Offensivaktionen ein.
Fünf Lindenhahns an diesem Tag, und der HFC würde mit einem beruhigenden 3:0 in die Pause gehen. Doch es gibt nur den einen, der hier den Rasen umpflügt, der Abstiegskampf atmet, sprintet und ausschwitzt. Der letzte Mann auf dem Feld, 1,75 groß, ein Riese an diesem feuchten Schicksalsabend, der einen Sieg bringen muss oder in die größte sportliche Krise der letzten fünf Jahre führen wird. Nur Augenblicke, nachdem die größte finanzielle Krise durch eine Kommunalisierung des Vereins behoben werden konnte.
Nach der Pause wird es nicht schöner und besser wird es auch nicht. Hilal El-Helwe kommt für Franke, ein Kunsthandwerker für einen Handwerker. Überall krachen sie nun aufeinander, mit Köpfen und Ellenbogen, mit Fußspitzen und Knien. Lindenhahn, natürlich Lindenhahn, zirkelt einen Freistoß auf Fennells Kopf. Knapp. Ein Torjäger wird der Amerikaner nicht mehr werden, aber in einem Spiel zwei Standards, die einen eigenen Mitspieler erreichen und ihm einen Abschluss ermöglichen? Gefühlte Premiere in dieser Spielzeit.
Bremen spielt jetzt besser mit, zu gut fast. Schmidt verzieht an Schnitzlers Kasten vorbei, Kazior prüft Schnitzler, zum Glück nicht ernsthaft.
Dann ist es wieder Lindenhahn, diesmal auf links, der einen Flankenlauf nach innen zieht wie früher in der alten Zeit ein Dennis Mast. Bremen bekommt den Ball nicht weg, Ajani hat ihn, seine Flanke missglückt, entpuppt sich aber als Volltreffer: Die 22 der Rotweißen trifft Jacobsen am Arm. Strafstoß.
Ein Fall für Klaus Gjasula, der nicht gut schießt, aber trifft. 1:0. Und der Anfang eines langen Leidens. Denn nachdem Kazior wenig später mit einem Abseitstor zeigt, wie dünn der Lack ist, der die drei Punkte strahlen lässt, wird die letzte halbe Stunde zur Folterveranstaltung. Kaum noch Entlastung nach vorn, gegen Bremens stochernde und keineswegs zwingend vorgetragene Angriffsversuche hinten aber immer wieder erstaunlich anfällig. Schnitzler fängt in der 70. Minute an, auf Zeit zu spielen. Toni Lindenhahn dagegen versucht sich als Stürmer und saust wie ein Abfangjäger auf Bremen-Kepper Oelschlägel zu, wenn der den Ball hat.
Der Sieg, das ist zu sehen, ist für den Rekordspieler des aktuellen HFC eine Frage des Überlebens. Andere auf dem Platz gingen noch zur Grundschule, da hat Lindenhahn schon hier gespielt. Andere auf dem Platz haben seitdem sieben Vereinen gedient. Er immer nur einem. Diesem hier. Seinem.
Nach knapp 92. Minuten, es steht immer noch 1:0, nimmt Rico Schmitt den Mann des Tages vom Platz, damit der noch ein paar Sekunden von der Uhr und sich den verdienten Applaus der spärlich besuchten Ränge abholen kann. Martin Ludwig kommt und Bremen noch zu einem Abschluss. Neben das Tor. Aufatmen. Sieg. Dem Tod von der Schippe gesprungen, vorerst. Aber ohne mehr Lindenhahn wird es schwer, bis Mitte Mai noch mehr zu holen als diese drei.
1 Kommentar:
Kurze Anmerkung: Ajani wollte vor dem Handspiel nicht flanken, es war schon ein (versuchter) Torschuss. Sicher, es ist nichts für Ästheten. Abstiegskampf sieht halt so aus. Mir ist das Ganze zu schwarz gesehen.
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