Sonntag, 3. Juli 2016

Fußball-EM: "Die Idee der Nation wird missbraucht!"

Fußball, eine Vorform von Faschismus: Das Nationale erstickt den Europagedanken, schuld sind Nicht-EU-Nationen wie Island und Wales.
Es ist Fußball, Fußball-EM, und ein Kontinent, der seit vielen Jahren unaufhörlich zusammenwächst, der keine Grenzen mehr kennt und nur noch Europäer, fällt zurück in die Regression des Einzelnen, des Unglobalisierten, des mit Farben und Fähnchen geschmückten Rechtspopulisten. Der aus der Uckermark stammende Ballologe und Fanforscher Wieland Wamsbauch spricht nach den Exzessen von Bordeaux, wo vermeintliche "deutsche" Anhänger im Stadion minutenlang "Scheiß-Italiener" riefen, im Interview mit PPQ über geschminkte Kurvengänger, die Rückkehr des Nationalen, den Brexit bei der EM, den folgenden Belxit, die Fehler der EU und die Folgen des grassierenden Nationalismus als sportpolitisches Instrument.

PPQ: Professor Wamsbauch, hat die EU jetzt,nach dem Ausscheiden der Engländer, der Belgier, der Italiener und des von Wahlskandalen geschüttelten Österreich noch eine Chance auf eine tragfähige Zukunft?

Wamsbauch: Sie muss erkennen, dass nur eine von Siegeswillen und dem Gefühl, sich für vergangene Niederlagen schadlos halten zu müssen, getragene Tagesordnung nicht ausreicht, der Unzufriedenheit und Unsicherheit der Fans zu begegnen. Die wollen, so rückwärtsgewandt das auch ist, eine Geschichte von nationaler Größe erzählt bekommen, die wollen Emotionen, Fähnchen, Überraschungen, das volle Gefühl. Das ist sicher eine Form gefühlter gruppenspezifischer Gewalt, vor allem emotionaler rechter Gewalt, das haben die "Scheiß-Italiener"-Rufe aus der deutschen Kurve gezeigt, die unkommentiert in die deutschen Wohnzimmer übertragen wurde. Und das ist ganz unbefriedigend. Aber die EU hat es eben über Jahrzehnte verabsäumt, den Menschen eine klare Perspektive hin zu einer europäischen Nation samt europäischer Nationalmannschaft aufzuzeigen.

PPQ: Wer muss jetzt als Gestalter auftreten? Deutschland und Frankreich vor allem – wobei Letzteres ja zurzeit sehr schwach zu sein scheint? Italien ist wie England raus. Die zuletzt erstarkten Island und Wales sind ja keine Mitglieder der Union oder werden es bald nicht mehr sein.

Wamsbauch: Es bleibt in der Tat nur die Allianz, die es im Kern immer war. Frankreich, das Deutschland misstraut. Und Deutschland, das seine Pläne hat, aber durch viel Nachgiebigkeit versucht, darüber hinwegzutäuschen. Andere wichtige Mitglieder gibt es nach dem Ausscheiden der Engländer nicht mehr – Italien, die Niederländer, Spanien, Polen, alles weg. Hier zeigt Europa seine kalte Seite, seine Bereitschaf, statt auf Inklusion auf Ausgrenzung zu setzen.

PPQ: Was ist mit den rechten Populisten, die aufgrund der Erfolge von Zwergstaaten wie Island und Wales eine Rückkehr des Nationalen feiern?


Wamsbauch: Das ist gefährlich für eine entfremdete, schlecht gebildete, klassenlose, religionslose Bevölkerung, die Schwierigkeiten dabei hat, eine politische Identität zu finden. Fußballnation und Kurvennationalismus werden vor allem für Alte, Junge, Kinder und weniger Gebildete zu neonationalen, profaschistischen Vehikeln. Das Problem ist, wie der Verlauf der EM zeigt, dass es für Behörden, Kommentatoren und Regierungen unmöglich ist, die Idee der Nation politisch zu nutzen, ohne zugleich Hass und Zorn gegen Minderheiten zu befördern. Immer läuft es auf ein Teilen hinaus: Wir oder die, die gegen uns, ihre Mannschaft, unsere Mannschaft. Nationale Egoismen regieren unverhohlen, sogenannten patriotismus wird hoffähig, 70 Jahre nach Ende des letzten Völkermordens. Es ist geschichtlos. Wer für Belgien schreit, hat keine Luft, für Italien zu schreien, sage ich immer.

PPQ: Die rechten Populisten werden trotzdem immer stärker. Island will gar nicht mehr in die EU, macht aber dennoch beim Fußballturnier der EU mit. Müssen wir da nicht handeln und diese Rosinenpickerei beenden?


Wamsbauch: Genau. Krieg ist die Folge, wenn pathetisch ausgestellter Nationalismus sich als Kraft der politischen Identität in einer Zeit erweist, die voll ist mit so vielen sogenanten Länderspielen – vor aller Augen tanzt der Nationalismus, tanzen Neofaschismus, Ablehnung der Globalisierung und die Rückbesinnung auf die eigene Scholle über den Fernsehschirm. Ich bemerke ausdrücklich dazu: Finanziert von Gebührengeldern und der staatlichen Industrie gewisser zweifelhafter Diktaturen.

PPQ: Wo verläuft der Riss in Europa: Durfte man über Englands Ausscheiden jubeln - als Deutscher? Darf man das Weiterkommen der Isländer fordern oder muss man es als zutiefst nationalistisches Unternehmen ablehnen? Ist der Kontinent da nicht völlig zerrissen?

Wamsbauch: Ja. Die vorwärtsorientierten Teile Europas stehen längst jenseits dieser an Gladiatorenspiele erinnernden Spektakel. Junge Leute, die selbst reisen, die schon mal in London waren oder dort wohnen, junge Frauen, die sich gern weltoffen anziehen oder auch Kopftuch tragen, weil sie Respekt vor einer Weltreligion haben oder einfordern. Die Europameisterschaft ist immer ein Aufstand der Vergangenheit gegen das Morgen, ein Regressionsmoment, in dem sich der alte Mensch zeigt, der Ewiggestrige, der Siege seiner Mannschaft fordert, gern eine rechtsorientierte Regierung hätte, die gleichmäßige Gestaltung von Fußgängerzonen von Lissabon bis Söderhamn mit Rosmann-Filialen, H&M-Läden und einem McDonalds-Imbiss ablehnt und dann in seinem Nationaltrikot auszieht, Flüchtlingsheime anzuzünden.

PPQ: Welche Rolle kann der Fußball denn in einer idealen Welt spielen, in der die Nationen allmählich obsolet werden und Nationalmannschaften nicht mehr gebraucht werden?

Wamsbauch: Die Europameisterschaft bleibt das zweitgrößte Fußballturnier der Welt, muss aber nicht zwingend von Nationalmannschaften ausgetragen werden. Wenn die Führerinnen und Führer Europas mutig sind, schaffen sie neue Normen, die es uns erlauben, auf einer Ebene jenseits des überkommenen Nationalgedankens mit Mannschaften zu jubeln, die auch nicht statisch und gleichgeschlechtlich sein müssen. Vorschläge für Reformen hin zu einer Gendergerechtigkeit statt der momentan herrschenden Geschlechterapartheid liegen vor. Reformen können in eine Richtung gehen, dass man die Zusammensetzung der Teams auslost, vielleicht auch von Spieltag zu Spieltag neu. Wir müssen nur mutig sein, den Ausstieg aus dem Nationalwahn zu wagen. Gehen wir voran, das haben wir beim Energieausstieg bewiesen, muss der Rest der Welt folgen.


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