Ist das nicht unfair, den SS-Mann Gröning nach 70 Jahren noch wegen Beihilfe zu verurteilen, wo doch die meisten Täter straffrei davongekommen sind? Müssten nicht die, die sie davonkommen lassen haben, wegen Strafvereitelung angeklagt werden? Nein, denn jetzt erst, wo fast alle Beteiligten tot sind, ist Gelegenheit, zu zeigen, dass man selbst nie vergessen wird, sagt der Historiker Wolfgang Schlenz im Gespräch mit PPQ. Es zeige, dass Deutschland seine Vergangenheit zunehmend ernst nehme, immer mehr Denkmäler und Mahnmale baue, je mehr Zeit vergehe, und seine Reue auch ausdrücke, indem es die letzten greifbaren Mitläufer ganz ernsthaft anklage und im Namen des Volkes einsperre.
PPQ: Vier Jahre Haft wegen Beihilfe zum Mord an 300.000 Menschen in Auschwitz - wie will man dieses Urteil einem der Täter erklären, die nicht nur an der Rampe standen, sondern selbst mordeten und nie bestraft worden sind?
Schlenz: Das muss man nicht erklären. Der Täter hätte eine andere Perspektive als der Richter, der Historiker oder die Frau auf der Straße. Aber die meisten Täter sind ja tot. Nur deshalb urteilen wir jetzt so entschlossen über Leute, die wir als Teil der Mordmaschinerie begreifen. Unsere Logik ist einfach: So lange die Täter in den Behörden saßen, in den Unternehmen und am Wahltag in die Wahlkabine gingen, waren sie unschuldig, so lange sie nicht verurteilt wurden. Da sie nie angeklagt wurden, blieben sie es, auch im Sinne des Landfriedens. Gröning hat den Fehler gemacht, sich zu einer Zeit an Leben zu klammern, zu der diese Regel nicht mehr gilt. Er musste eine Strafe bekommen. Seit wir den ukrainischen Hiwi Demjanjuk dafür verurteilt haben, dass er eine Zugehörigkeit zum Täterkollektiv hatte, die Millionen Deutsche bis heute nicht haben, reicht das für eine Bestrafung.
PPQ: Welches Signal geht mit diesem Urteil in die Welt in Tagen, da Angela Merkel wieder mit Hitlerbärtchen gemalt wird?
Schlenz: Damit zeigt die Mehrheitsgesellschaft, die keinerlei Zugehörigkeit zum Täterkollektiv hat, sondern allenfalls ein Häuschen, ein bisschen Judenschmuck oder ein paar Bilder erbte, dass die Verbrechen nicht vergessen sind. Die deutsche Gesellschaft und die Justiz bemühen sich, je länger her, desto doller, niemanden, der am Holocaust beteiligt war, ungestraft davon kommen zu lassen, weil er zu alt, zu krank ist oder weil es als zu lange her erscheint. Wer noch lebt, und sei er 99 und bettlägerig, kommt dran. Das Urteil heute hat damit historische, moralische und juristische Notwendigkeiten sorgfältig gegeneinander abgewogen: Früher konnte man nicht so hart durchgreifen, weil es zu viele getroffen hätte. Heute geht das, sind ja nur noch ein paar übrig. Mir erscheinen vier Jahre Freiheitsentzug auch als ein Kompromiss, mit welchem dem Rechtsstaat genüge getan ist. Dass der Angeklagte sich ungerecht behandelt fühlt, verglichen mit hunderttausenden anderer Täter, leuchtet ein. Aber dass er so alt geworden ist, dafür kann ja der Rechtsstaat nichts.
PPQ: Welche Bedeutung hat dieses Urteil für die Aufarbeitung des Holocausts?
Schlenz: Natürlich keine. Die Bedeutung des Urteils liegt darin, dass es deutlich macht, wie feige über Jahrzehnte hinweg mit dem Thema umgegangen wurde. Man hat Rücksicht genommen und die Monstrosität der Tat allenfalls in schönen Wort beschrieben. Aber jetzt, wo es, seien wir ehrlich, zu spät ist, werden keine Anstrengungen mehr gescheut, um deutlich zu machen: Die Tat war verbrecherisch, die Mitwirkung war verbrecherisch, wir ziehen keinen Schlussstrich und wir gehen nicht mit dem Schwamm drüber, wir fangen gerade erst an! Nachdem das Verfahren gegen die Schreibtischtäter des Reichssicherheitshauptamtes wegen Verjährung Ende der 60er noch kurz vor der Eröffnung eingestellt werden musste, kann sich darauf 40 Jahre später niemand mehr berufen.
PPQ: Wie wichtig ist dieser Prozess für die wachsende Erinnerungskultur in Deutschland, gerade auch für die junge Generation?
Schlenz: Das weiß niemand. Für jeden unter 30 ist das Thema völlig abstrakt, all die Denkmäler, die wir errichtet haben, all die politischen Schulungen und so weiter, das erreicht Jugendliche nur partiell. Wer nicht dabei war, kann sich, so ehrlich muss man sein, nicht erinnern können. Die Konsequenz von Erinnerungskultur und Rechtsstaat besteht deshalb seit Jahren darin, eine Art Ersatzerinnerung zu beschwören. Und eben neuerdings Täter und Tatverdächtige vor Gericht zu bringen. Das hat man ja früher tunlichst vermieden. Das Argument, der Angeklagte sei so alt, man könne nichts mehr machen - das zählt nicht mehr. Auch der Umstand, dass Oskar Gröning bei Dienstantritt in Auschwitz noch unter Jugendstrafrecht fiel, darf uns nicht abhalten. Wenn wir in einem Rechtsstaat leben wollen, müssen wir auch alle Konsequenzen des Rechtsstaates ziehen. Auch für junge Menschen ist das ein deutliches Zeichen, dass wir es nicht beim Holocaust-Mahnmal bewenden lassen, sondern das wir Erinnern ernst nehmen, auch wenn wir nichts haben, an das wir uns erinnern können. Da gehört die juristische Aufarbeitung dazu. An die kann man ja dann zurückdenken.
PPQ: Wie verändert sich durch den Prozess der Blick der Deutschen auf die eigene Vergangenheit?
Schlenz: Wir haben immerhin einen Angeklagten, der schon vor 50 jahren gestanden hatte: „Ich war dabei“. Er wurde nicht gegen seinen Willen vor Gericht gezerrt und zeigte sich nicht als das große Unschuldslamm, er kam quasi freiwillig, aus freien Stücken. Das sollte die Diskussion so beeinflussen, dass man nicht mehr auf Unwissen, Befehl und Gehorsam rekurrieren kann.
PPQ: Nehmen Sie Oskar Gröning seine Reue ab?
Schlenz: Er ist einer der ganz seltenen Fälle oder der einzige vielleicht, der sich nicht auf "er habe nur seine Pflicht getan", "er habe von allem nichts gewusst" oder "er habe nichts Unrechtes getan" beruft. Er hat Reue gezeigt. Das muss man ernst nehmen. Das nehme ich ihm ab. Mit 94 hat er vielleicht jetzt auch die Reife. Es war also völlig richtig, so lange zu warten.
PPQ: Vier Jahre Haft wegen Beihilfe zum Mord an 300.000 Menschen in Auschwitz - wie will man dieses Urteil einem der Täter erklären, die nicht nur an der Rampe standen, sondern selbst mordeten und nie bestraft worden sind?
Schlenz: Das muss man nicht erklären. Der Täter hätte eine andere Perspektive als der Richter, der Historiker oder die Frau auf der Straße. Aber die meisten Täter sind ja tot. Nur deshalb urteilen wir jetzt so entschlossen über Leute, die wir als Teil der Mordmaschinerie begreifen. Unsere Logik ist einfach: So lange die Täter in den Behörden saßen, in den Unternehmen und am Wahltag in die Wahlkabine gingen, waren sie unschuldig, so lange sie nicht verurteilt wurden. Da sie nie angeklagt wurden, blieben sie es, auch im Sinne des Landfriedens. Gröning hat den Fehler gemacht, sich zu einer Zeit an Leben zu klammern, zu der diese Regel nicht mehr gilt. Er musste eine Strafe bekommen. Seit wir den ukrainischen Hiwi Demjanjuk dafür verurteilt haben, dass er eine Zugehörigkeit zum Täterkollektiv hatte, die Millionen Deutsche bis heute nicht haben, reicht das für eine Bestrafung.
PPQ: Welches Signal geht mit diesem Urteil in die Welt in Tagen, da Angela Merkel wieder mit Hitlerbärtchen gemalt wird?
Schlenz: Damit zeigt die Mehrheitsgesellschaft, die keinerlei Zugehörigkeit zum Täterkollektiv hat, sondern allenfalls ein Häuschen, ein bisschen Judenschmuck oder ein paar Bilder erbte, dass die Verbrechen nicht vergessen sind. Die deutsche Gesellschaft und die Justiz bemühen sich, je länger her, desto doller, niemanden, der am Holocaust beteiligt war, ungestraft davon kommen zu lassen, weil er zu alt, zu krank ist oder weil es als zu lange her erscheint. Wer noch lebt, und sei er 99 und bettlägerig, kommt dran. Das Urteil heute hat damit historische, moralische und juristische Notwendigkeiten sorgfältig gegeneinander abgewogen: Früher konnte man nicht so hart durchgreifen, weil es zu viele getroffen hätte. Heute geht das, sind ja nur noch ein paar übrig. Mir erscheinen vier Jahre Freiheitsentzug auch als ein Kompromiss, mit welchem dem Rechtsstaat genüge getan ist. Dass der Angeklagte sich ungerecht behandelt fühlt, verglichen mit hunderttausenden anderer Täter, leuchtet ein. Aber dass er so alt geworden ist, dafür kann ja der Rechtsstaat nichts.
PPQ: Welche Bedeutung hat dieses Urteil für die Aufarbeitung des Holocausts?
Schlenz: Natürlich keine. Die Bedeutung des Urteils liegt darin, dass es deutlich macht, wie feige über Jahrzehnte hinweg mit dem Thema umgegangen wurde. Man hat Rücksicht genommen und die Monstrosität der Tat allenfalls in schönen Wort beschrieben. Aber jetzt, wo es, seien wir ehrlich, zu spät ist, werden keine Anstrengungen mehr gescheut, um deutlich zu machen: Die Tat war verbrecherisch, die Mitwirkung war verbrecherisch, wir ziehen keinen Schlussstrich und wir gehen nicht mit dem Schwamm drüber, wir fangen gerade erst an! Nachdem das Verfahren gegen die Schreibtischtäter des Reichssicherheitshauptamtes wegen Verjährung Ende der 60er noch kurz vor der Eröffnung eingestellt werden musste, kann sich darauf 40 Jahre später niemand mehr berufen.
PPQ: Wie wichtig ist dieser Prozess für die wachsende Erinnerungskultur in Deutschland, gerade auch für die junge Generation?
Schlenz: Das weiß niemand. Für jeden unter 30 ist das Thema völlig abstrakt, all die Denkmäler, die wir errichtet haben, all die politischen Schulungen und so weiter, das erreicht Jugendliche nur partiell. Wer nicht dabei war, kann sich, so ehrlich muss man sein, nicht erinnern können. Die Konsequenz von Erinnerungskultur und Rechtsstaat besteht deshalb seit Jahren darin, eine Art Ersatzerinnerung zu beschwören. Und eben neuerdings Täter und Tatverdächtige vor Gericht zu bringen. Das hat man ja früher tunlichst vermieden. Das Argument, der Angeklagte sei so alt, man könne nichts mehr machen - das zählt nicht mehr. Auch der Umstand, dass Oskar Gröning bei Dienstantritt in Auschwitz noch unter Jugendstrafrecht fiel, darf uns nicht abhalten. Wenn wir in einem Rechtsstaat leben wollen, müssen wir auch alle Konsequenzen des Rechtsstaates ziehen. Auch für junge Menschen ist das ein deutliches Zeichen, dass wir es nicht beim Holocaust-Mahnmal bewenden lassen, sondern das wir Erinnern ernst nehmen, auch wenn wir nichts haben, an das wir uns erinnern können. Da gehört die juristische Aufarbeitung dazu. An die kann man ja dann zurückdenken.
PPQ: Wie verändert sich durch den Prozess der Blick der Deutschen auf die eigene Vergangenheit?
Schlenz: Wir haben immerhin einen Angeklagten, der schon vor 50 jahren gestanden hatte: „Ich war dabei“. Er wurde nicht gegen seinen Willen vor Gericht gezerrt und zeigte sich nicht als das große Unschuldslamm, er kam quasi freiwillig, aus freien Stücken. Das sollte die Diskussion so beeinflussen, dass man nicht mehr auf Unwissen, Befehl und Gehorsam rekurrieren kann.
PPQ: Nehmen Sie Oskar Gröning seine Reue ab?
Schlenz: Er ist einer der ganz seltenen Fälle oder der einzige vielleicht, der sich nicht auf "er habe nur seine Pflicht getan", "er habe von allem nichts gewusst" oder "er habe nichts Unrechtes getan" beruft. Er hat Reue gezeigt. Das muss man ernst nehmen. Das nehme ich ihm ab. Mit 94 hat er vielleicht jetzt auch die Reife. Es war also völlig richtig, so lange zu warten.
15 Kommentare:
Schäbig, einfach nur schamlos und schäbig,dieser „Rechtsstaat“.
Das Urteil wird den Diktatoren der Welt und ihren Helfershelfern eine Lehre sein!
Man hätte diesem Nazi außerdem noch alle Jahre aufbrummen sollen, die man den schon toten Tätern nicht aufgebrummt hat. Wegen schonungsloser Aufarbeitung und Courage gegen rechts und so.
Ist das im Diagramm diese Schere, die immer weiter auseiander klafft?
"Die Justiz ist eine Hure der Politik"
Wenn es noch eines Beweises bedurfte, jetzt haben wir ihn.
Obwohl, an der Stelle waren wir schon mal.
VS
Lebenslänglich für diesen Rampen-Sepp wäre eigentlich das Mindeste ggewesen - wobei sich 4 Jährchen bei diesem Lebensalter leicht zu mehrfach lebenslänglich auswachsen kann, hehe.
Augen auf bei der Gepäckaufbewahrung, das ist die Botschaft Buntschlands an die Schlächter dieser Welt.
der alois
Reichsrampenwart
"Augen auf bei der Gepäckaufbewahrung, das ist die Botschaft Buntschlands an die Schlächter dieser Welt."
Ich habe bei der *faz* koomentiert, daß dies ein gutes Signal für die (ehem.) Mitglieder des KBW sei. "Beihilfe zum Massenmord" dürfte einige vor ein Gericht kriegen könnne.
Genauer gesagt, habe ich versucht, zu kommentieren, da dieser Kommentar nicht frei geschaltet wurde. :-)
Am 17. September 1814 kamen die beiden Kriegsschiffe HMS Briton und HMS Tagus vor Pitcairn an. Die Kapitäne Staines und Pipon ... waren beeindruckt von der friedlichen und gottesfürchtigen Gemeinschaft, die sie vorfanden. Adams wollte freiwillig mit nach England zurücksegeln und sich dem Seegericht stellen, aber die Bewohner flehten die Kapitäne an, ihn auf der Insel zu lassen. In seinem späteren Bericht an die Admiralität schrieb Staines, dass es ein Akt von großer Grausamkeit gewesen wäre, den letzten noch lebenden Meuterer gefangenzunehmen.
Das war unsere kleine Reportage aus der Zivilisation. Wir geben zurück zum Krampf gegen Rechts.
VS
die letzten beißen die hunde, heißt es doch, oder? das hätte er sich eben vorher überlegen müssen. alle haben jahrzehntelang vermieden, irgendwen wegen dieser wirklich üblen sachen damals anzuklagen. die hatten alle genug zeit, zu sterben. wer das nicht getan hat, soll sich doch heute nicht beschweren
Gesinnungsjustiz
quatsch
"die letzten beißen die hunde, heißt es doch, oder? das hätte er sich eben vorher überlegen müssen. alle haben jahrzehntelang vermieden, irgendwen wegen dieser wirklich üblen sachen damals anzuklagen. die hatten alle genug zeit, zu sterben. wer das nicht getan hat, soll sich doch heute nicht beschweren"
Oder frei nach Gorbi:
Wer zu spät stirbt, den bestraft das Leben!
der Mann kann gar nicht bestraft werden ( Befehlsnotstand ) . Klar hätte er den Befehl verweigern können - hätte / wäre , wenn und aber .
Konsequenterweise sollten ALLE bolschewistischen Verbrechen mit der gleichen Konsequenz verfolgt werden .
hier wurde alliiertes Nachkriegsrecht umgesetzt - und das ist definitiv verfassungswidrig .
@ Letzter Anonym: Mich dünkt, daß Du noch in einer bunten Märchenwelt lebst, in der die Verbrecher bestraft werden*, und der Klapperstorch die Kinder bringt. Das aber ohne Vorwurf - niemand ist perfekt. Außer mir, natürlich :mrgreen: .
--- *"I learned that murderers die for their crimes. Even if we make a mistake sometimes..." (Tom Paxton)---
-- Halbgott in Weiß --
Zitat: "wo doch die meisten Täter straffrei davongekommen sind?"
Na eben, haben sie sich doch im Endkampf, anlässlich ihrer Befreiung oder während ihrer Kriegsgefangenschaft bis Ende der 50-er Jahre durch Verstorbenwer - äh, durch feiges Versterben ihrer Verantwortung entzogen!
Opferanwalt Andreas Schulz kämpft Oskar Gröning frei
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