Donnerstag, 23. April 2015

Mediendeutschland: Abgefüttert mit Ersatzthemen

Ein Jahr wie im Rausch, aufgeregt, kribbelig, empört und fasziniert, das ist dieses 2015 bisher. "Mediendeutschland zeigt seine ganze Klasse", urteilt der Medienwissenschaftlers Hans Achtelbuscher über das erste Jahresdrittel, das geprägt war von einer bedingungslosen Themenhatz. Ukraine und Griechenland, die Euro-Rettung, Pegida, der mutmaßliche Selbstmordflieger Andreas Lubitz, der Flüchtlingsansturm aus den destabilisierten jungen Demokratien Nordafrikas und schließlich das grauenhafte Sterben im Mittelmeer - mit seinem jungen Forscherteam vom An-Institut für Angewandte Entropie der Bundeskulturstiftung in Halle an der Saale hat Achtelbuscher das fortwährende Themensterben in der deutschen Medienlandschaft in einer großangelegten Studie untersucht und festgestellt, dass es nach Thilo Sarrazin zum ersten Mal wieder einem einzelnen Menschen gelungen ist, die Medienagenda Deutschlands deutlicher zu bestimmen als alle Großthemen.

Zwar habe der Germanwings-Pilot Andreas Lubitz nach der von Achtelbuscher vor Jahren entworfenen und heute vielbeachteten Medienwirkungseinheit Emp nur einen Haftwert von drei erreicht, was einer Verweildauer des Themas von knapp drei Wochen entspricht. "Dafür aber gehörten diese drei Wochen ihm nahezu allein."

Schwer hätten es zuletzt vor allem die Dauerthemen aus der Weltpolitik gehabt. Euro-Rettung, Griechenland-Rettung, Ukrainekrieg, überall hier sei ein nach Jahren dauernder Bombardierung mit sogenannten Non-Infos eine Publikumsermüdung eingetreten, die mittlerweile auch auf die Berichterstatter übergegriffen habe. "Da herrscht nur noch Überdruss, man berichtet pflichtgemäß, hat diese sperrigen Themen aber wegen ihrer hohen Bedeutung im Grunde längst abgeschrieben." In den Programmpläne von führenden Nachrichtensendungen und Leitmagazinen habe stattdessen ein unerwartetes Thema wie Pegida Punkte gemacht: "Menschen, die aus eigenem Entschluss auf die Straße gehen und Forderungen stellen, die mit keiner Parteizentrale abgesprochen sind - das war wie Mann beißt Hund", analysiert der Wissenschaftler das Faszinosum Pegida.

Das sich allerdings auch nach zwei Monaten erschöpft hatte. "Glücklicherweise kochte gerade zu diesem Zeitpunkt die Griechenland-Krise erneut ein wenig hoch, so dass ein Ersatzthema zur Hand war." Weil das wegen der akuten Publikumsermüdung aber nur partiell tragfähig war, hätten Medien dem Germanwings-Piloten Andreas L. so viel zu verdanken. "Er kam, als die endgültige Rettung Griechenlands zum neunten Mal verschoben und die Ukraine-Krise durch Putins unverantwortliche Politik komplett erschlafft war."

Wie im zweite Hauptsatz der Mediendynamik beschrieben, traten Großereignisse auch hier nicht gleichzeitig auf, sondern fein säuberlich hintereinander, als plane eine große göttliche Regie den Ablauf von Flugzeugabstürzen, Prominentenhochzeiten, Sportevents und Skandalen. Direkt nach dem Abklingen der "Lubitz-Wallung", wie Achtelbuscher die mediale Auseinandersetzung mit dem mutmaßlichen Pilotenselbstmord nennt, startete die Berichterstattung über die "Mittelmeermorde der EU" (Heribert Prantl), begleitet vom Jubel über das 6:1 der Bayern im Viertelfinale der Champions League.

"Wir können heute sagen", so fasst Herbert Achtelbuscher seine Forschungsergebnisse zusammen, "dass die Digitalisierung keinerlei Auswirkungen auf die Geltung des ersten Gesetzes der Mediendynamik hat, nach dem die Welt in keinen Schuhkarton passt, unweigerlich aber in 15 Minuten Tagesschau."

Achtelbuschers Analysen: Mediale Bedeutung in Zeiten der Bedeutungslosigkeit


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