Fakten sind im Bundestagswahlkampf Mangelware. Sowohl Union als auch SPD als auch Grüne, FDP und Linke lügen unverfrorener denn je, schreibt der "Spiegel" in einer mutigen, knallharten, teilweise zornigen Generalabrechnung mit Politik und Medien im Land. Konsequenzen müssen sie kaum fürchten - auch weil die deutschen Medien ihre Kontrollfunktion immer schlechter erfüllen könnten.
Sigmar Gabriel, aktueller Anwärter auf die Spitzenkandidatur der deutschen Sozialdemokratie bei den Bundestagswahlen im kommenen Jahr, ist ein Familienmensch. In den Parlamentsferien kümmert der Neu-Magdeburger sich rührend um seine Tochter Mariechen, so ist er zuletzt mehrfach überall ins Fernsehen und in die Zeitungen gekommen. Er habe Elternzeit genommen, behauptet er zumindest. Dazu gehöre, dass er eine "Polit-Pause" mache, vertraute der ehemalige Ministerpräsident vor kurzem allen Medien im Land an. Elternzeit? Wann gibt der ehemalige Sozialdemokrat denn dann all die Interviews? Wann denkt er die Strategien aus, verfasst er die Papiere und Wortmeldungen? Doch keine deutsche Zeitung prüfte Gabriels Tagesablauf, niemand machte auf die günstige Überschneidung der Elternzeit mit den Parlamentsferien hin.
Große Sache? Natürlich nicht. Und doch eine bezeichnende Episode für diesen Bundestagsvorwahlkampf. Wohl noch nie haben die Kandidaten beider Seiten so offen und so unverblümt gelogen - über eigene Meriten, aber auch über die Pläne ihrer Rivalen. "Fakten sind für Verlierer. Die Wahrheit ist tot", fürchtet die "New York Times", die das Ganze aus der Ferne beobachtet.
Und niemand muss fürchten, erwischt zu werden: Viel dreistere Manipulationen als Gabriels sind in diesem Wahlkampf bislang straffrei ausgegangen - weil die Strategen beider Seiten kühl kalkulieren, dass Lügen mittlerweile ohne Folgen bleiben.
Angela Merkels Rede auf einem Volksfest ist dafür ein gutes Beispiel: "Für uns ist es selbstverständlich, dass wir sagen können, was wir wollen. Aber wenn Sie überlegen, wieviele von den sieben Milliarden Menschen das können." Unverfroren erteilte Merkel einer Volksabstimmung über den Euro eine Absage. Sie sehe dafür keine Notwendigkeit, sagte die Kanzlerin. Was Merkel verschwieg: Sie selbst gehörte 2007 dem Gipfel an, der das angeblich große Reformprojekt Lissabonner Vertrag stemmen musste - weil die geplante europäische Verfassung zuvor bei Volksabstimmungen gescheitert war.
Kein Einzelfall: Jede zehnte Aussage im deutschen Wahlkampf ist eine Lüge, jeder zweite Satz nur die halbe Wahrheit.Wenn SPD-Chef Gabriel einen "radikalen Strategiewechsel" in der Europa-Politik fordert, verschweigt er dabei, dass er auch keinen Strategie hat. Wenn Gudo Westerwelle "mehr Respekt für Euro-Krisenländer" fordert, geht es ihm dabei weniger um das deutsche Ansehen in der Welt, sondern mehr um sein Ansehen als distinguierter Staatsmann. Der Grüne Jürgen Trittin nennt Merkel einen "scheinheilige Schuldenkanzlerin", vergisst aber, dass das Fundament zur Euro-Krise gelegt wurde, als er selbst mit am Kabinettstisch saß. Der Vorsitzende der Linkspartei, ein Mann namens Bernd Riexinger, fordert, "Reiche stärker zu besteuern". Schluckt aber den Nebensatz mit der Reichen-Definition seiner Partei herunter: Jeder, der mehr als den Mindestlohn erhält.
Das Lügen hat Methode, auf beiden Seiten. Merkels Berater haben der Kanzlerin Fernsehauftritte in staatlichen Sendern besorgt, in denen sie ihren Rivalen fälschlich vorhielt, Europa zu gefährden. Wenn Sigmar Gabriel hingegen fordert, die Wohlhabenden in Deutschland müssten mehr "sozialen Patriotismus" zeigen, balanciert er damit haarscharf zwischen Dichtung und Wahrheit: Bereits heute zahlen zehn der Steuerpflichtigen über die Hälfte der festgesetzten Einkommensteuer.
Doch die Opposition wirkt weit skrupelloser. Jede zehnte Aussage von Gabriel und Co. sei komplett falsch, hat das Onlineportal NachdenklicheSeiten vorgerechnet. Bei Merkel lasse sich das "nur" über eine von 50 sagen.
Dabei bleiben die Lügen meist, aber keineswegs immer unentdeckt. Führende Medien haben längst "Fact-Checker" eingestellt, deren einzige Aufgabe ist, Politikeraussagen auf ihren Wahrheitsgehalt abzuklopfen. Sie verleihen dann Pinocchios - je gravierender die Lüge, desto mehr lange Nasen.
Doch auch die Glaubwürdigkeit von Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehsendern und Magazinen hat massiv gelitten, weil sie zunehmend als parteiisch angesehen werden und in der Krise ihre Redaktionen massiv gekürzt haben. Außerdem müssen sie mittlerweile mit vielen anderen Info-Kanälen konkurrieren: Über soziale Netzwerke etwa verbreiten sich Gerüchte und falsche Informationen rasant schnell. Die Kontrollfunktion der Medien wird auch dadurch erschwert, dass die künftigen Kanzlerkandidaten seit Jahren und Jahrzehnten mit den Berichterstattern bekannt sind - kritische Fragen zu falschen Aussagen sind da nicht zu erwarten.
Eine Änderung dieser Praxis ist kaum zu erwarten, allen durchweg nur in Internetblogs geführten Debatten über Sigmar Gabriel jüngste Vaterzeit-Flunkereien zum Trotz. "Wir lassen uns nicht von Fact-Checkern diktieren, wie wir Wahlkampf führen", sagte ein SPD-Stratege Journalisten trotzig.
Sigmar Gabriel, aktueller Anwärter auf die Spitzenkandidatur der deutschen Sozialdemokratie bei den Bundestagswahlen im kommenen Jahr, ist ein Familienmensch. In den Parlamentsferien kümmert der Neu-Magdeburger sich rührend um seine Tochter Mariechen, so ist er zuletzt mehrfach überall ins Fernsehen und in die Zeitungen gekommen. Er habe Elternzeit genommen, behauptet er zumindest. Dazu gehöre, dass er eine "Polit-Pause" mache, vertraute der ehemalige Ministerpräsident vor kurzem allen Medien im Land an. Elternzeit? Wann gibt der ehemalige Sozialdemokrat denn dann all die Interviews? Wann denkt er die Strategien aus, verfasst er die Papiere und Wortmeldungen? Doch keine deutsche Zeitung prüfte Gabriels Tagesablauf, niemand machte auf die günstige Überschneidung der Elternzeit mit den Parlamentsferien hin.
Große Sache? Natürlich nicht. Und doch eine bezeichnende Episode für diesen Bundestagsvorwahlkampf. Wohl noch nie haben die Kandidaten beider Seiten so offen und so unverblümt gelogen - über eigene Meriten, aber auch über die Pläne ihrer Rivalen. "Fakten sind für Verlierer. Die Wahrheit ist tot", fürchtet die "New York Times", die das Ganze aus der Ferne beobachtet.
Und niemand muss fürchten, erwischt zu werden: Viel dreistere Manipulationen als Gabriels sind in diesem Wahlkampf bislang straffrei ausgegangen - weil die Strategen beider Seiten kühl kalkulieren, dass Lügen mittlerweile ohne Folgen bleiben.
Angela Merkels Rede auf einem Volksfest ist dafür ein gutes Beispiel: "Für uns ist es selbstverständlich, dass wir sagen können, was wir wollen. Aber wenn Sie überlegen, wieviele von den sieben Milliarden Menschen das können." Unverfroren erteilte Merkel einer Volksabstimmung über den Euro eine Absage. Sie sehe dafür keine Notwendigkeit, sagte die Kanzlerin. Was Merkel verschwieg: Sie selbst gehörte 2007 dem Gipfel an, der das angeblich große Reformprojekt Lissabonner Vertrag stemmen musste - weil die geplante europäische Verfassung zuvor bei Volksabstimmungen gescheitert war.
Kein Einzelfall: Jede zehnte Aussage im deutschen Wahlkampf ist eine Lüge, jeder zweite Satz nur die halbe Wahrheit.Wenn SPD-Chef Gabriel einen "radikalen Strategiewechsel" in der Europa-Politik fordert, verschweigt er dabei, dass er auch keinen Strategie hat. Wenn Gudo Westerwelle "mehr Respekt für Euro-Krisenländer" fordert, geht es ihm dabei weniger um das deutsche Ansehen in der Welt, sondern mehr um sein Ansehen als distinguierter Staatsmann. Der Grüne Jürgen Trittin nennt Merkel einen "scheinheilige Schuldenkanzlerin", vergisst aber, dass das Fundament zur Euro-Krise gelegt wurde, als er selbst mit am Kabinettstisch saß. Der Vorsitzende der Linkspartei, ein Mann namens Bernd Riexinger, fordert, "Reiche stärker zu besteuern". Schluckt aber den Nebensatz mit der Reichen-Definition seiner Partei herunter: Jeder, der mehr als den Mindestlohn erhält.
Das Lügen hat Methode, auf beiden Seiten. Merkels Berater haben der Kanzlerin Fernsehauftritte in staatlichen Sendern besorgt, in denen sie ihren Rivalen fälschlich vorhielt, Europa zu gefährden. Wenn Sigmar Gabriel hingegen fordert, die Wohlhabenden in Deutschland müssten mehr "sozialen Patriotismus" zeigen, balanciert er damit haarscharf zwischen Dichtung und Wahrheit: Bereits heute zahlen zehn der Steuerpflichtigen über die Hälfte der festgesetzten Einkommensteuer.
Doch die Opposition wirkt weit skrupelloser. Jede zehnte Aussage von Gabriel und Co. sei komplett falsch, hat das Onlineportal NachdenklicheSeiten vorgerechnet. Bei Merkel lasse sich das "nur" über eine von 50 sagen.
Dabei bleiben die Lügen meist, aber keineswegs immer unentdeckt. Führende Medien haben längst "Fact-Checker" eingestellt, deren einzige Aufgabe ist, Politikeraussagen auf ihren Wahrheitsgehalt abzuklopfen. Sie verleihen dann Pinocchios - je gravierender die Lüge, desto mehr lange Nasen.
Doch auch die Glaubwürdigkeit von Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehsendern und Magazinen hat massiv gelitten, weil sie zunehmend als parteiisch angesehen werden und in der Krise ihre Redaktionen massiv gekürzt haben. Außerdem müssen sie mittlerweile mit vielen anderen Info-Kanälen konkurrieren: Über soziale Netzwerke etwa verbreiten sich Gerüchte und falsche Informationen rasant schnell. Die Kontrollfunktion der Medien wird auch dadurch erschwert, dass die künftigen Kanzlerkandidaten seit Jahren und Jahrzehnten mit den Berichterstattern bekannt sind - kritische Fragen zu falschen Aussagen sind da nicht zu erwarten.
Eine Änderung dieser Praxis ist kaum zu erwarten, allen durchweg nur in Internetblogs geführten Debatten über Sigmar Gabriel jüngste Vaterzeit-Flunkereien zum Trotz. "Wir lassen uns nicht von Fact-Checkern diktieren, wie wir Wahlkampf führen", sagte ein SPD-Stratege Journalisten trotzig.
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