"Wieder Lust auf Nachwuchs", freute sich die stets positiv gestimmte Süddeutsche Zeitung. Mit gutem Grund: "Frauen bekommen so viele Kinder wie seit 1990 nicht", hieß es unter Bezugnahme auf eine Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes. Zwei Wochen nach der Nachricht, Deutschland habe die wenigstens Kinder Europas, eine besonders gern gedruckte News: "678.000 Kinder kamen in Deutschland im vergangenen Jahr zur Welt", meldet auch die "Welt". Während die Politik über Elterngeld und Kita-Plätze streite, um das Kinderkriegen wieder attraktiver zu machen, schüfen "die Frauen in Deutschland Tatsachen" und sie brächten nun einfach "wieder mehr Kinder zur Welt".
Zumindest, wenn ein spitzer Bleistift und viel guter Wille zur Hand sind. Denn die Zahlen allein geben keinerlei Grund, in Jubelarien auszubrechen. Um das tun zu können, braucht es vielmehr viel guten Willen: So ist eine Voraussetzung die, sich von der Betrachtung der absoluten Zahl der Neugeborenen zu lösen und stattdessen nur die durchschnittliche Kinderzahl je Frau anzuschauen. Die lag im vergangenen Jahr bei 1,39 und damit in der Tat "so hoch wie seit 1990 nicht mehr".
Komischerweise aber gab es 1990 rund 900.000 Neugeborene, 2010 aber nur etwa 678.000. Sogar im ersten Nachkriegsjahr 1946 lag die Geburtenzahl mit rund 922 000 um 27 Prozent höher als in dem Jahr, das die Qualitätspresse zum einstimmigen Vorjubeln verleitete: "Geburtenrate steigt auf 20-Jahres-Hoch" feiert der "Spiegel", "Wieder mehr Babys in Deutschland geboren" assistiert die Tagesschau.
Von wegen, Deutschland schafft sich ab! Nach nur 665.000 Geburten anno 2009 sind 678.000 fast zwei Prozent mehr! Zwar weniger als nach den Halbjahreszahlen zu erwarten war, als der durchweg mit Spitzenkräften besetzte "Stern" die Frage herbeifantasierte "Stirbt Deutschland vielleicht doch nicht aus?" Aber immerhin. Fast wieder der Wert von 2008, als noch 682.000 Geburten verzeichnetet wurden, und nur einen Zahlendreher entfernt von 2007, als es 687.000 waren.
Der neue Rekord ist so gesehen einer, der für ganze zwei Jahre Gültigkeit hat. Wenn das für ein hochkarätiges Spitzenblatt wie die "Zeit"nach ausreichend Grund für einen Leadsatz wie "Die Zahl der Geburten war im letzten Jahr die höchste seit 1990" ist, was denn dann? Auch die "Welt" freut sich grundlos: "678.000 Kinder kamen in Deutschland im vergangenen Jahr zur Welt – so viele wie lange nicht mehr". Und alle anderen machen mit: Einfach mal Geburtenzahl und Geburtenrate verwechseln, dann ein bisschen schwadronieren und schon ist der Leser beruhigt: 375 Schlagzeilen (laut Google News) können gar nicht irren.
Geburten im Archiv: Viel mehr ist viel zu wenig
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