Es gibt diese Minute kurz nach dem Schlußpfiff an diesem Abend im Leipziger Zentralstadion, in der alle aus Halle jubeln, als seien sie gerade Weltmeister geworden. Nur Michael Schädlich, der Präsident des Halleschen FC, geht allein ein Stück über den Rasen wie einst Franz Beckenbauer über den Rasen in Rom kurz nach dem WM-Endspielsieg 1990. Auf den Rängen kaspern sie ausgelassen nach dem höchsten Saisonsieg, nach einer Halbserie ohne Niederlage, nach einer Hinrunde, wie sie noch niemals eine Mannschaft des HFC besser gespielt hat. Schädlich aber ist ganz in Gedanken, er sieht nicht, er hört nichts. Bis schließlich seine Spieler an ihm vorbeidefilieren wie am Uefa-Chef, der die Champions-League-Trophäe austeilt.
Dabei ist es nur ein Vier zu Null in der Vierten Liga, nur ein weiterer Sieg auf dem Weg aus den muffigen Kellerzimmern des deutschen Amateurfußballs hinauf in die Etagen, in denen Luft zum Atmen ist und Geld genug, richtigen Fußball zu spielen. Aber die Mannschaft von Trainer Sven Köhler hat heute Abend hier im Zentralstadion bewiesen, dass es nicht nur Zufall ist, der sie, die Aufsteigertruppe aus dem Fußball-Armenhaus, an die Spitze der Regionalliga gebracht hat. Spielerisch ist die Elf aus gescheiterten Profis und ehrgeizigen Nachwuchsleuten auch bei den alten, heißgeliebten Feinden aus Leipzig zu keiner Offenbarung fähig. Aber mit Glück - schon in der zweiten Minute darf Kapitän Nico Kanitz einen an Ronny Hebestreit verwirkten Elfmeter verwandeln - und Einsatzwillen zwingen sie die Leipziger, die über weite Strecken schlechter wirken, in die Knie.
Lange sieht es indes nicht so aus, als könnte der Gast hier einen deutlichen Sieg landen. Halle führt und führt also seine größte Tugend vor: Einen Vorsprung verwalten und gelassen warten, was passiert. Das hat seit August nie mehr eingebracht als das 2:0 beim Aufstiegskonkurrenten Babelsberg, aber auch nie mehr gekostet als anderthalb Handvoll Unentschieden. Auch in Leipzig sieht es nach Wiederanpfiff so aus, als könnte der Sparflammenfußball nur als Flammenrückstoß enden. Ein paar Lok-Fans und ihre halleschen Kinder-Kollegen entzünden im HFC-Block bengalische Feuer, Schiedsrichter Kemptner unterbricht das Spiel, Getümmel auf den Traversen, Ratlosgkeit auf dem Platz. Nico Kanitz geht, um wenigstens symbolisch zu beruhigen, was sich bis hierher nicht von Strafen und nicht von Fördergeldern hat beruhigen lassen. Als es weiter geht, ist Halle kurzzeitig aus dem Rhythmus, ein Leipziger fällt im halleschen Strafraum - wieder Strafstoß.
Im Tor aber steht Darko Horvat, der Mann, der nach eigener Aussage ein Leben lang kein Elfmetertöter war. Und seit kurzem jeden Strafstoß hält, der auf sein Tor geschossen wird. So auch hier: Horvat, von den HFC-Fans beharrlich "Horvart" genannt, weil sich das besser auf "unser Torwart" reimt, taucht ins linke Eck und fängt sicher.
Die Partie ist entschieden, denn aus dem Spiel trifft Leipzig, das wissen die 5900 Zuschauer aus der ersten Hälfte, nicht einmal das leere Tor. Die Hallenser dagegen machen Tore, wo gar keine Chancen sind. Erst köpft Maik Kunze nach einer Ecke, die erst die zweite der Hallenser ist, während dei Anzeigetafel stolz vermeldet, leipzig habe bis hierher schon deren fünf gehabt. Danach dreht Sachsen noch einmal auf, doch von oben sieht das aus wie eine teure Limousine, die sich in weichem Boden festgefahren hat. Viel Getöse, es spritzt Schlamm, Trainer Dirk Heyne, von den Hallensern geheimnisvollerweise nicht mit "Heyne, heyne, hüte Deine dschweine" anfeuert, gestikuliert und brüllt. Aber die Karre sitzt im Schlamm, das bisschen, was auf sein Tor flattert, fängt der Horvat-Torwat mit einer Hand.
Auf der anderen Seite geht es leichter. Der für den rackernden und rennenden und sogar zweimal mitvoller Absicht aufs Tor schießenden Thomas Neubert eingewechselte Christian Beck holt sich einen langen Ball. Und legt ihn ungewohnt elegant per Bogenlampe über den bedauernswerten Sachsen-Keeper Lippmann ins Netz. 3:0 für Halle.
Sachsen Leipzig, vor zwei, drei Jahren noch auf dem direkten Weg in die erste Bundesliga und nun Kanonenfutter für Oberliga-Aufsteiger, ist noch gar nicht wieder bei der Sache, da folgt der letzte Teil der Hinrichtung. Maik Kunze fällt im Strafraum, als er nach zwei, drei Tänzel- und Meidbewegungen gar nicht mehr weiß, wohin mit dem Ball. Den nun folgenden Strafstoß schiebt diesmal Torsten Göhrke ins Netz. Zuschauer aus Leipzig sind jetzt nicht mehr in der WM-Schüssel, Gesänge nur noch aus der halleschen Kurve zu hören. Gesiegt haben sie hier zuletzt immer, nie aber so locker, leicht und hoch. Schieri Kemptner zeigt allerdings Gnade mit den geschlagenen Hausherren und erspart ihnen ein Debakel in der Nachspielzeit. Was Rot-Weiß trägt im Stadion, feiert den höchsten Sieg seit zwei Jahren dennoch, als bedeute er schon den Aufstieg. Das Wort nimmt natürlich keiner im weiten Rund in den Mund. Aber Michael Schädlich wird, in seinen langen, einsamen kurzen Sekunden unten auf dem Rasen, kein anderes gedacht haben.
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